Hof und konnte durch das der milden Sommernacht wegen offenstehende Fenster Gespräche im Wohnzimmer belauschen. Bei Bedarf und mit einem Quentchen Gelenkigkeit hätte er sich sogar vornüber beugen und durch den Spalt zwischen den Gardinen spähen können.
Einen Nachteil gab es: Die Lage war unkomfortabel. Ein normaler Mensch hätte in derart verkrümmter Pose, noch dazu auf einem Steinsims von vier Zoll Breite, schwerlich lange ausharren können. Doch bestand die höchste Kunst der Ninja seit erdenklichen Zeiten eben nicht darin, den Feind mit nackten Händen zu töten oder von einer Festungsmauer zu springen, o nein. Der Gipfel für einen Ninja war es, die Kunst der Reglosigkeit zu beherrschen. Ein Meister dieses Fachs konnte über sechs, acht Stunden in einer Stellung verharren, ohne einen einzigen Muskel zu bewegen. Fandorin war solch ein Meister nicht, dafür hatte er die edle und gefährliche Kunst viel zu spät erlernt, doch durfte er sich im gegebenen Fall trösten, daß die Verschmelzung mit der Landschaft nicht von Dauer sein mußte. Und das Geheimnis eines schwierigen Unterfangens ist im Grunde immer dasselbe: Man darf die Schwierigkeit nicht als Übel, man muß sie als Gnade empfinden. Dem vornehmen Manne muß es eine Lust sein, den Unvollkommenheiten der eigenen Natur zu trotzen. Und daran gilt es zu denken, wenn selbige in besonders peinigender Form auftreten - sich einem als steinerne Kante in die Hüfte bohren, zum Beispiel.
Die Lust hielt seit etwa zwei Minuten an, da ging die Hintertür des »Anglija« auf, und eine männliche Silhouette erschien. Massig, mit festen, schnellen Schritten. Das Gesicht bekam Fandorin nur einen flüchtigen Moment lang zu sehen, als der Mann unmittelbar vor der Tür in das Lichtgeviert von Wandas Fenster geriet. Ein Durchschnittsgesicht ohne herausragende Merkmale: oval, engstehende Augen, helles Haar, die Schläfenknochen etwas hervorstehend, preußisch gezwirbelter Schnurrbart, mittelgroße Nase, ein Grübchen auf dem quadratischen Kinn. Der Fremde trat bei Wanda ein, ohne anzuklopfen, was interessant genug war. Fandorin lauschte angespannt. Beinahe umgehend begann man im Zimmer zu reden - und sogleich wurde klar, daß es nicht gelangt hätte, über ein gutes Gehör zu verfügen, man mußte auch Deutsch verstehen, denn das Gespräch wurde in der Sprache Goethes und Schillers geführt. Fandorin hatte sich während der Schulzeit in diesem Fach nicht sonderlich hervorgetan, so daß sich der Brennpunkt bei der Schwierigkeitsbewältigung nun zwangsläufig von der physischen Inkommodität hin zur intellektuellen Anspannung verschob. Was sein Gutes hatte: Die Steinkante geriet darüber in Vergessenheit.
»Sie sind unfolgsam, Fräulein Tolle«, sprach ein schneidender Bariton. »Zwar finde ich es gut, daß Sie sich doch noch besonnen und getan haben, was Ihnen befohlen war. Aber wozu mußten Sie sich so lange zieren und meine Nerven strapazieren? Ich bin doch keine Maschine, ich bin ein lebendiger Mensch.«
»Ach so?« erwiderte Wandas Stimme sarkastisch.
»Ja, stellen Sie sich vor. Sie haben Ihre Aufgabe erfüllt. So weit, so gut. Aber wieso erfahre ich davon nicht durch Sie, sondern durch einen befreundeten Journalisten? Wollen Sie mich unnötig reizen? Das würde ich Ihnen nicht raten.« Der Bariton klang zunehmend metallischer. »Sie wissen doch, was ich mit Ihnen machen kann?«
Wandas Antwort klang müde: »Ja doch, Herr Knabe, ja.«
An dieser Stelle beugte Fandorin sich vorsichtig über die Kante und spähte ins Zimmer, doch der geheimnisvolle Herr Knabe stand mit dem Rücken zu ihm. Er hatte die Melone abgenommen, viel sah man trotzdem nicht: glattgescheiteltes 33
Haar (blond, Stufe III, mit einem Stich ins Rötliche, bestimmte Fandorin nach der speziellen polizeilichen Fahndungstabelle) und einen dicken, roten Hals (dem Anschein nach nicht unter Größe sechs).
»Schon gut, ich vergebe Ihnen. Na, na, wer wird denn gleich schmollen.«
Der Besucher tätschelte der Hausherrin mit seinen kurzen Fingern die Wange und küßte sie unter das Ohr. Wandas Gesicht lag im Licht, und Fandorin sah die feinen Züge zu einer Grimasse des Abscheus entgleisen.
Leider mußte Fandorin die Besichtigung in diesem Augenblick abbrechen - noch ein weniges, und er wäre abgestürzt. Eine für die gegebene Situation höchst peinliche Vorstellung.
»Erzählen Sie mir alles.« Die Stimme des Mannes versuchte sich einzukratzen. »Wie sind Sie vorgegangen? Haben Sie das Präparat benutzt, das ich Ihnen gab? Ja oder nein?« Schweigen.
»Anscheinend nicht. Bei der Obduktion ist man auf keine Spuren von Gift gestoßen, so viel weiß ich schon. Ein Glück auch. Wer hätte gedacht, daß sie auf die Idee kommen, die Leiche aufzumachen? Aber nun sagen Sie doch, was ist passiert? Hat er uns etwa den Gefallen getan, von sich aus zu sterben? Das wäre ja allerhand. Die Güte der Vorsehung. Gott hält die Hand über unser deutsches Vaterland.« Der Bariton bebte vor Emphase. »Warum sagen Sie denn nichts?«
Dumpf kam es von Wanda: »Gehen Sie. Ich kann Sie heute nicht ertragen.«
»Ach, schon wieder diese Weiberlaunen. Wie ich das satt habe! ... Ist ja gut, Sie müssen keine Blitze nach mir schleudern. Die große Tat ist vollbracht, das ist das Wichtigste. Sie sind famos, Fräulein Tolle, und ich lasse Sie jetzt allein. Aber morgen erzählen Sie mir alles. Ich brauche das für meinen Bericht.«
Ein langanhaltender Kuß war zu vernehmen. Fandorin zog die Stirn kraus, denn er dachte an den Abscheu in Wandas Gesicht. Dann klappte die Tür.
Pfeifend schritt Herr Knabe über den Hof und verschwand.
Kurz darauf sprang Fandorin lautlos nach unten, reckte sich erleichtert, richtete die eingeschlafenen Glieder und nahm sodann die Verfolgung von Wandas Landsmann auf. Der Fall geriet in ein völlig anderes Licht.
FÜNFTES KAPITEL,
in welchem Moskau als Dschungel erscheint
»Mein V-v-... Vorschlag wäre«, faßte Fandorin seinen Rapport zusammen, »den deutschen Staatsbürger Hans-Georg Knabe ab sofort zu observieren und seine Verbindungen aufzuklären.«
»Sollten wir den Schuft nicht besser gleich verhaften, Karatschenzew?« polterte der Generalgouverneur und runzelte seine gefärbten Brauen.
»Eine Verhaftung ohne Beweise ist schlechterdings unmöglich«, erwiderte der Polizeipräsident. »Und es würde auch nichts bringen, der ist doch ein geriebener Kerl. Wenn Sie mich fragen, Euer Exzellenz, so sollte man diese Wanda hernehmen und ordentlich schütteln. Dann fallen die Beweise von ganz alleine an.«
Pjotr Churtinski als vierter Teilnehmer der vertraulichen Unterredung sagte gar nichts. Man saß schon geraume Zeit beisammen, seit dem frühen Morgen. Fandorin hatte über die Ereignisse des gestrigen Abends Bericht gegeben und dabei auch geschildert, wie er dem rätselhaften Besucher nachgeschlichen war, von dem man inzwischen wußte, daß er Hans-Georg Knabe hieß, in der Karetny-Gasse wohnte und die Berliner Bank Kerbl & Schmidt in Moskau repräsentierte. Bei der Wiedergabe des feindseligen Gesprächs zwischen Knabe und Wanda mußte der Detektiv den Rapport für eine Weile unterbrechen, denn Fürst Dolgorukoi geriet in Rage, schüttelte die Fäuste:
»Nein, diese Schufte, diese Schurken! Haben die etwa den stolzesten Recken Rußlands auf dem Gewissen? Ein unerhörtes Verbrechen! Ein Skandal, den die Welt noch nicht gesehen hat! Dafür werden die Germanen uns büßen!«