»Immer mit der Ruhe, Durchlaucht«, raunte der Chef der Geheimabteilung in besänftigendem Ton. »Das ist doch eine mehr als zweifelhafte Hypothese. Den Weißen General zu vergiften? Hanebüchen! Daß die Deutschen ein solches Risiko eingehen, kann ich nicht glauben. Das ist eine zivilisierte Nation, nicht irgendein Persien!«
»Zivilisiert?« fragte Karatschenzew und lachte verächtlich. »Die Russische Nachrichtenagentur hat mir ein paar Artikelchen aus der heutigen Presse zukommen lassen, der britischen und der deutschen. Wie man weiß, mochte General Sobolew beide Länder nicht sonderlich und hat aus seinen Ansichten keinen Hehl gemacht. Aber vergleichen Sie einmal den Ton. Sie gestatten, Hohe Exzellenz?« Der Polizeipräsident setzte den Kneifer auf und entnahm seiner Mappe ein Blatt Papier. »Der englische >Standard< schreibt wie folgt: Sobolew zu ersetzen wird seinen Landsleuten nicht leichtfallen. Es genügte, daß er auf seinem Schimmel vor der Schlachtlinie auftauchte, und schon gerieten die Soldaten in eine Begeisterung, der Napoleons Veteranen nichts entgegenzusetzen hatten. Der Tod eines solchen Mannes zu solch kritischer Zeit ist ein unersetzlicher Verlust für Rußland. Wiewohl Englands Feind, hat er mit seinen Ruhmestaten hierzulande nicht weniger Eindruck gemacht als bei sich zu Hause.«
»Ein nobles und ehrliches Wort, da läßt sich nichts sagen«, lobte der Fürst.
»Genau. Und jetzt zitiere ich aus der Samstagsausgabe des deutschen >Börsenkuriers<.«
Karatschenzew zog ein weiteres Blatt hervor. »Ah ... ja, nehmen wir doch das hier: Vom russischen Bären droht keine Gefahr mehr. Mögen die Panslawisten sich an Sobolews Grab die Augen ausweinen! Was uns Deutsche betrifft, so geben wir unumwunden zu, daß der Tod eines eingefleischten Feindes uns mit Befriedigung erfüllt. Ein Gefühl des Bedauerns empfinden wir nicht. Der einzige Mann in Rußland, der tatsächlich in der Lage war, seinen Worten Taten folgen zu lassen, ist tot... Und in dem Stil geht es weiter. Was, bitte schön, ist daran zivilisiert?« Der Gouverneur war empört. »Eine Unverschämtheit! Natürlich sind uns die deutschfeindlichen Anwandlungen des Verstorbenen bekannt. Wir wissen noch gut, welchen Sturm der Entrüstung seine Pariser Rede zur slawischen Frage hervorgerufen hat, beinahe wären Seine Majestät und der deutsche Kaiser ihretwegen aneinandergeraten. >Der Weg gen Konstantinopel führt über Berlin und Wien!< Starker Tobak, nicht eben diplomatisch. Aber deswegen auf einen Mord zu verfallen, das ist doch die Höhe! Ich werde Seine Majestät unverzüglich in Kenntnis setzen. Den Bratwurstmaxen verpassen wir auch ohne Sobolew eine Abreibung, die sich gewaschen ... «
»Durchlaucht«, wurde dem kochenden Gouverneur von Karatschenzew milde Einhalt geboten, »wollen wir Herrn Fandorin nicht doch erst einmal zu Ende rapportieren lassen?«
Fandorins Rapport erfuhr nun keine weitere Unterbrechung, doch sein abschließender Vorschlag - Knabe observieren zu lassen - rief sichtliche Enttäuschung und die bereits erwähnten Äußerungen hervor. »Wanda zu verhaften würde einen Skandal erzeugen«, hielt Fandorin dem Polizeipräsidenten entgegen. »Wir würden damit nur das Andenken des Verstorbenen besudeln und hätten wenig gewonnen. Herr Knabe wäre obendrein gewarnt. Und außerdem hat das be 35
lauschte Gespräch bei mir den Eindruck hinterlassen, daß es gar nicht Mademoiselle Wanda war, die Sobolew getötet hat. Zumal Professor Welling bei der Obduktion kein Gift entdeckt hat.«
»In der Tat«, versetzte Churtinski bedeutungsvoll, wobei er sich ausschließlich dem Fürsten zuwandte. »Ein einfacher Herzstillstand, Durchlaucht. Betrüblich, aber nicht ungewöhnlich. Selbst für einen Mann im besten Alter. Ich könnte mir denken, daß sich der Herr Kollegienassessor vielleicht auch nur verhört hat. Oder womöglich hat er eine allzu blühende Phantasie? Daß es mit seinem Deutsch nicht zum besten steht, hat er ja selbst zugegeben.«
Fandorin sah den Geheimdienstler durchdringend an und erwiderte nichts. Dafür ereiferte sich der rothaarige Polizeigeneral.
»Was heißt hier Phantasie! Sobolew war kerngesund! Er ist mit der Lanze auf Bärenjagd gegangen und hat in Eislöchern gebadet! Wollen Sie damit sagen, daß einer, der aus dem Sperrfeuer von Plewna ungeschoren hervorgeht und die Wüste Turkestans durchquert, beim Liebesspiel den Löffel abgibt? Blödsinn! Sie sollten dem Stadtklatsch Ihr Ohr schenken, Herr Churtinski, und sich aus Spionagedingen heraushalten.«
Die offene Konfrontation setzte Fandorin in Erstaunen. Der Gouverneur hingegen schien an derlei Szenen gewöhnt. Er hob begütigend die Hände: »Aber, aber, meine Herren, wer wird sich denn streiten. Wir wissen auch so nicht, wo uns der Kopf steht. Dieser Tod bringt alles durcheinander. Telegramme, Kondolenzen, Deputationen, der ganze Tea-tralny ist mit Kränzen vollgepackt - kein Durchkommen. Hochprominente Persönlichkeiten haben sich zur Trauerfeier angesagt, die wollen empfangen und untergebracht sein.
Heute abend treffen der Kriegsminister und der Generalstabschef ein. Morgen früh kommt Großfürst Kirill Alexandrowitsch direktemang zum Begräbnis. Und heute muß ich noch zum Herzog Lichtenburgski. Er ist mit seiner Frau, der Gräfin Mirabeau, zufälligerweise gerade in Moskau. Sie ist die leibliche Schwester des Verstorbenen. Es gehört sich, daß ich kondolieren fahre, hab mich schon ankündigen lassen. Kommen Sie ruhig mit, mein lieber Fandorin, unterwegs in der Kutsche erzählen Sie mir das Ganze noch einmal haarklein. Und wir überlegen, wie es weitergehen soll. Und Sie, Karatschenzew, sollten es auf sich nehmen und die beiden fürs erste beschatten lassen: den Deutschen und das Mädel. Und unbedingt Knabes Bericht für die Spionagechefs abfangen, von dem er gesprochen hat. Am besten, Sie lassen ihn erst mal schreiben und ziehen ihm das fertige Papierchen unter der Feder weg. Und wenn die Beschattung in die Wege geleitet ist, bitte ich Sie wieder an diesen Tisch. Sobald ich mit Fandorin zurück bin, legen wir das Weitere fest. Wir dürfen keine unnötigen Fehler machen. Die Sache riecht nach Krieg.«
Der General schlug die Absätze zusammen und trat ab. Churtinski schien nur darauf gewartet zu haben und kam vor den Schreibtisch des Gouverneurs gesprungen.
»Durchlaucht, ich habe hier noch ein paar dringende Vorgänge«, sagte er, den Kopf dicht vor des Fürsten Ohr geneigt.
»Sind die wirklich so dringend?« brummte der. »Du hast doch gehört, daß ich in Eile bin, der Herzog wartet.«
Der Hofrat legte die Hand an die gestärkte, ordensgeschmückte Uniformbrust.
»Absolut dringend und keinen Aufschub duldend. Hier zum Beispiel, Durchlaucht, der Kostenüberschlag für die Ausmalung der Kathedrale. Wenn Sie die Güte hätten, einen 36
Blick darauf zu werfen. Ich empfehle den Auftrag an Herrn Gegetschkori zu geben, ein famoser Maler, noch dazu von löblichster Denkungsart. Er verlangt zwar eine erkleckliche Summe, aber dafür liefert er pünktlich - ein Mann, ein Wort. Wenn Sie hier unterschreiben würden, dann wäre die Sache geritzt.«
Fingerfertig schob Pjotr Churtinski dem Gouverneur ein Papier hin, während er schon das nächste aus seiner Mappe fischte.
»Und dies hier, Durchlaucht, ist das Projekt zur Grabung einer Untergrundbahn nach dem Londoner Vorbild. Ausführender Unternehmer: Kommerzienrat Sykow. Eine großartige Sache. Ich hatte schon die Ehre, Ihnen davon zu berichten.«
»Ich entsinne mich«, brummelte Fürst Dolgorukoi. »Eine Untergrundbahn muß es neuerdings sein. Braucht das denn viel Geld?«
»Nicht der Rede wert, Durchlaucht. Sykow will für die Ingenieursarbeiten eine läppische halbe Million haben. Ich hab mir den Überschlag angesehen - das hat Hand und Fuß.« »Eine läppische halbe Million, soso«, seufzte der Fürst. »Ich möchte bloß wissen, auf welchem Berg von Reichtümern du stehst, daß eine halbe Million dir läppisch vorkommt?« Und zu Fandorin, dessen Blick verriet, daß er sich über den vertraulichen Umgangston eines Gouverneurs gegenüber seinem Geheimdienstchef wunderte, sagte der Fürst: »Mit Pjotr Parmenowitsch stehe ich familiär. Er ist in meinem Haus aufgewachsen, müssen Sie wissen. Sein seliger Vater war Koch bei mir. Wenn der gute alte Parmen dich so reden hörte, wie du mit den Millionen um dich wirfst, Peterchen!«