»Sollte Herr Fandorin etwas Wichtiges herausbekommen, so bitte ich um unverzügliche Mitteilung an meine Person. Solange Großfürst Kirill noch nicht vor Ort ist, vertrete ich Seine Majestät den Zaren.«
Fandorin verbeugte sich wortlos ein weiteres Mal.
»Ach ja, der Zar.« Sinaida barg ein zerknittertes Telegramm aus ihrem Ridikül. »Wir haben eine Depesche Seiner Majestät erhalten. >Bin bestürzt und betrübt über den plötzlichen Tod des Generaladjutanten Sobolew ...«<
Die Gräfin schluchzte und schniefte, bevor sie weiterlas.
»>... Schwer ersetzlicher Verlust für die russische Armee, von allen aufrechten Kämpfern betrauert. Einen so nützlichen und der Sache ergebenen Mann zu verlieren tut weh. Alexandere«
Fandorin hob eine Braue - das Telegramm kam ihm recht kühl vor. Schwer ersetzlich, was hieß denn das? Daß ein Ersatz sehr wohl möglich schien? Tut weh, und fertig?
»Aufbahrung und Totenmesse sind für morgen angesetzt«, informierte Dolgorukoi. »Die Moskauer wünschen ihrem Helden die letzte Ehre zu erweisen. Anschließend wird der Leichnam per Eisenbahn in die Hauptstadt überführt, nehme ich an? Seine Majestät werden gewiß ein Staatsbegräbnis veranlassen. Da sind noch viele, die von Michail Sobolew Abschied nehmen wollen.« Der Gouverneur nahm Haltung an. »Die nötigen Maßnahmen sind ergriffen, Eure Hoheit. Der Leichnam ist einbalsamiert, so daß diesbezüglich keine Komplikationen entstehen.«
Der Herzog schielte aus den Augenwinkeln nach seiner Frau, deren Tränenstrom unversiegbar schien. Dann sagte er halblaut: »Schauen Sie, Fürst, Seine Majestät hat den Wünschen der Familie entsprochen und einem Begräbnis im engsten Kreise, auf dem Rjasaner Gut zugestimmt.«
Etwas sehr eilfertig, wie es Fandorin schien, lenkte der Fürst auf diese Neuigkeit ein.
»Aha, das ist doch gut. So ist es menschlicher, ohne allen Pomp. Wenn man bedenkt, was für ein Mensch er war. Eine Seele von Mensch!«
Das hätte er nun nicht sagen sollen. Die Gräfin, gerade dabei, sich ein wenig zu beruhigen, heulte von neuem los, und heftiger als zuvor. Zwinkernd holte der Gouverneur ein riesiges Taschentuch hervor und wischte Gräfin Sinaida mit väterlicher Geste das Gesicht, was wiederum ihn so in Rührung versetzte, daß er in selbiges Tuch geräuschvoll hineinschneuzte. Herzog Jewgeni verfolgte die slawisch ungezügelten Gefühlsausbrüche mit Verlegenheit.
»Wladi-... Wladimir Andreje-... Andrejewitsch, wie konnte es nur geschehen ...« Die Gräfin sank dem Fürsten an die korsettgeschnürte Brust. »Er ist doch nur sechs Jahre älter als ich, hu-huuh ...« Die Gräfin, alle aristokratische 39
Würde fahren lassend, greinte nun wie ein Klageweib aus dem einfachen Volke. Das brachte Dolgorukoi um das letzte bißchen Mut.
»Fandorin, mein Bester«, sprach er mit vor Erregung knödelnder Stimme über Sinaidas rotblonden Nacken hinweg, »Sie könnten ... Fahren Sie ruhig schon los, ich ... Ich bleibe noch eine Weilchen. Nehmen Sie Frol mit, und schicken* Sie die Kutsche anschließend wieder her. Regeln Sie das Nötige allein mit Karatschenzew... Sie sehen ja, daß ich hier nicht...«
Auf der Rückfahrt klagte Frol Wedischtschew ausgiebig über Intriganten (»Antreganten«, wie er sagte) und Steuerbetrüger.
»Was sie anrichten, diese Mißgeburten! Jede Laus zupft sich ihr Blättchen! Da will ein Geschäftsmann einen Laden aufmachen, mit Plüschhosen handeln zum Beispiel. Nichts einfacher als das, möchte man meinen. Fünfzehn Rubel an den Fiskus, und es kann losgehen. Aber weit gefehlt! Der Reviervorsteher will sein Teil abhaben, der Akziseeintreiber und der Sanitärarzt. Alles an der Steuer vorbei! Und die Hosen, die höchstens anderthalb Rubel kosten dürften, kosten nun drei. Moskau ist nicht mehr Moskau, ein Schungel ist das.«
»Ein was?« Fandorin verstand nicht gleich.
»Ein Schungel. Tier gegen Tier! Oder nehmen wir den Wodka. Ei-ei-ei, meine Herren! Mit dem Wodka ist es eine Tragödie! Ich könnte Ihnen Dinge erzählen ...«
Es folgte die dramatische Geschichte, wie Schnapshändler unter Mißachtung aller von Gott und den Menschen gemachten Gesetze bei den Akzisebeamten Steuerbanderolen kaufen, eine Kopeke das Stück, und sie oben auf ihre Flaschen mit Selbstgebranntem kleben, damit es aussieht wie genehmigt. Fandorin wußte nicht, was er darauf sagen sollte, 40
doch war seine Beteiligung am Gespräch glücklicherweise gar nicht gefragt.
Als die Kutsche, über Kopfsteine holpernd, vor dem Portal der Gouverneursresidenz anlangte, brach Wedischtschew seine Philippika mitten im Satz ab und sagte: »Gehen Sie am besten gleich rauf ins Kabinett. Der Polizeipräsident wird -schon warten. Ich hab noch zu tun.«
Und mit einer Flinkheit, die man bei seinen Jahren und der Würde seines Bartes nicht erwartet hätte, schnürte der Kammerdiener in einen Seitengang hinein.
Das Gespräch unter vier Augen verlief ergiebig und qualifiziert. Fandorin und Karatschenzew verstanden einander auf Anhieb, was wiederum für beide ein Grund zur Freude war.
Der General hatte es sich in einem Sessel am Fenster bequem gemacht, Fandorin saß ihm gegenüber auf einem Stuhl mit samtenem Bezug.
»Lassen Sie sich erst einmal über Herrn Knabe ins Bild setzen«, begann Karatschenzew, ohne einstweilen in den bereitliegenden Hefter hineinzuschauen. »Die Person ist mir bestens bekannt - was ich mir heute morgen zu sagen verkniff, es gab ja schon genug Theater.«
Der General verzog vielsagend den Mund, und Fandorin verstand, daß das eine Anspielung auf Churtinski war.
»Ich habe hier« - der General klopfte auf seinen Hefter -»ein geheimes Zirkular vom letzten Jahr. Die Ministerialabteilung, exakt: Sachgebiet drei, welches sich, wie Sie wissen, mit politischen Angelegenheiten befaßt, ordnete damals an, einen Hans-Georg Knabe ins Visier zu nehmen. Damit er nicht abtauchte.«
Fandorin neigte den Kopf zur Seite und schaute sein Gegenüber fragend an.
»Ein Spion!« erklärte der Polizeichef. »Unseren Erkenntnissen zufolge Hauptmann beim deutschen Generalstab, Nachrichtenoffizier des kaiserlichen Geheimdienstes in Moskau. In Kenntnis dessen durfte ich Ihrem Bericht vorbehaltlos Glauben schenken.«
»Und Sie lassen ihn deswegen nicht hochgehen, weil ein Spion, den man kennt, besser ist als einer, den man nicht kennt?« Dies war schon mehr eine Feststellung als eine Frage. »Exakt. Außerdem existieren gewisse Regeln diplomatischer Schicklichkeit. Und was habe ich davon, wenn ich ihn festnehme und außer Landes weise? Die Deutschen reagieren umgehend mit der Ausweisung eines unserer Leute. Wem soll das nützen? Spione rührt man nicht an, wenn kein besonderer Grund vorliegt. Den dürfte es nun allerdings geben. Eine herbe Verletzung des Gentlemen's Agreement.«
»Gelinde gesagt«, erwiderte Fandorin und mußte lächeln. So etwas nennt man Understatement, dachte er.
Nun lächelte auch der General.
»Wir werden uns Herrn Knabe also schnappen. Die Frage ist, wo und wann ... Ich schlage vor, heute abend. Im Restaurant >Alpenrose<.« Der General lächelte noch mehr. »Nach mir vorliegenden Angaben« - wieder ein Klopfen auf den Hefter - »verkehrt Knabe dort regelmäßig. Für heute sieben Uhr hat er telefonisch einen Tisch bestellt. Seltsamerweise auf den Namen Rosenberg, obwohl er in dem Restaurant ja bekannt sein dürfte.« »Interessant«, bemerkte Fandorin. »Man sollte ihn schnappen, das finde ich auch.«
Der General nickte.
»Ein Haftbefehl des Generalgouverneurs liegt vor. Wir handeln hier ganz soldatisch: Was der Chef befiehlt, wird erledigt.«
»Woher weiß man, daß Knabe t-t-... telefoniert und auf fremden Namen einen Tisch bestellt hat?« fragte Fandorin.
»Das ist der technische Fortschritt.« Die Augen des Polizeipräsidenten blitzten schelmisch. »Telefongespräche lassen sich vom Fernamt aus abhören. Aber das bleibt bitte streng unter uns. Wird es ruchbar, verliere ich mit einem Schlag die Hälfte meiner Informationen. Übrigens wird Ihre Freundin Wanda heute gleichfalls in der >Alpenrose< auftreten, sie hat den Portier für um sechs eine Kutsche reservieren lassen. Da bahnt sich eine interessante Begegnung an. Am besten, wir kassieren sie gleich alle beide. Bleibt die Frage: Wie gehen wir vor?«