»Anwesend, gewiß doch!« bestätigte der Bedienstete mit einer Verbeugung. »Gestern eingetroffen. Mitsamt der Suite. Haben den Ecktrakt gemietet, den ganzen Flur dort hinter der Tür. Aber jetzt schlafen Seine Hochwohlgeboren noch und wünschen nicht behelligt zu werden.«
»Michel? Um halb neun?« wunderte sich Fandorin. »Das sieht ihm aber g-gar nicht ähnlich. Na, mitunter ändert sich der Mensch. Bitte richten Sie dem G-... General aus, daß ich in N2 20 wohne - er wird mich bestimmt sehen wollen.«
Während der junge Mann sich zum Gehen wandte, begab sich ein weiterer Zufall, das zweite Glied in unserer tückischen
* (franz.) 7. Juli, Freitag.
Kette. Die Tür, die auf den vom hochrangigen Gast bewohnten Flur führte, öffnete sich plötzlich einen Spalt, durch den sich der Kopf eines Kosakenoffiziers schob: zerzauster Haarschopf, schwarze Brauen, Adlernase und eingefallene Wangen, deren bläulicher Schimmer auf mangelnde Rasur hindeutete.
»He, Sie!« brüllte er mit donnernder Stimme und wedelte ungeduldig mit einem Blatt Papier. »Eine Depesche zum Telegrafen! Hurtig!«
»Nanu! Gukmassow!« Erast Fandorin breitete die Arme aus. »So sieht man sich wieder! Immer noch der Patroklus von unserem lieben Achilles? Und zum Jessaul befördert. G-g-... Gratuliere!«
Aber die freundschaftliche Zuwendung berührte den Offizier nicht im geringsten - und wenn doch, dann unangenehm. Er maß den jungen Hagestolz mit einem bösen Blick aus schwarzen Zigeuneraugen und schlug, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, die Tür hinter sich zu. Fandorin erstarrte in dämlicher Pose: mit ausgebreiteten Armen, so als hätte er anfangen wollen zu tanzen und es sich im letzten Moment anders überlegt.
»Nein, wirklich«, murmelte er verwirrt, »es hat sich doch v-v-... viel verändert. Die Stadt, und die Leute auch.«
»Belieben Sie das Frühstück aufs Zimmer serviert zu bekommen?« fragte der Portier, der die Verwirrung des Assessors geflissentlich übersah.
»Nein, nicht nötig«, kam die Antwort. »Lieber hätte ich einen Eimer Eis aus dem Keller. Oder besser z-zwei.«
In seinem Zimmer, das geräumig und komfortabel eingerichtet war, benahm der neue Gast sich reichlich eigenartig. Er zog sich splitternackt aus, stellte sich auf den Kopf und stemmte sich, beinahe ohne mit den Füßen die Wand zu berühren, zehnmal mit den Armen vom Boden weg. Derweil nahm der japanische Diener, den das Verhalten seines Herrn absolut nicht zu beirren schien, vom Etagendiener die zwei randvoll mit Eis gefüllten Eimer entgegen, schüttete die hübschen grauen Würfel vorsichtig in die Wanne, ließ kaltes Wasser aus dem kupfernen Hahn dazulaufen und wartete, bis der Kollegienassessor seine wunderliche Gymnastik beendet hatte.
Eine Minute später erschien Fandorin, puterrot von seinen Exerzitien, im Badezimmer und stieg entschlossen in das horribel eisige Becken.
»Masa, hol die Paradeuniform heraus. Und die Orden. In den Samtkästchen. Ich fahre dem Fürsten meine Aufwartung machen.«
Die Anweisung kam knapp, durch die zusammengepreßten Zähne. Offensichtlich kostete das Bad einige Willenskraft.
»Zum Statthalter des Zaren, Eurem neuen Dienstherrn?« fragte Masa ehrerbietig nach. »Dann bringe ich auch das Schwert. Ohne Schwert geht es nicht. Früher, beim russischen Gesandten in Tokio, wäre es angegangen, der hielt nichts von Zeremonien. Nicht aber beim Gouverneur solch einer großen, aus Stein gebauten Stadt. Keine Widerrede!«
Er verschwand und kam bald darauf zurück, den Paradedegen andächtig vor sich her tragend.
Fandorin, der wohl einsah, daß zu streiten nicht lohnte, seufzte nur.
»Und wie steht es mit der Kurtisane, Herr?« fragte Masa und blickte seinem Gebieter beunruhigt in das blaugefrorene Gesicht. »Gesundheit geht vor.«
»Zum Teufel damit!« Zähneklappernd erhob sich Fandorin aus der Wanne. »D-d-... das Handtuch und die Kleider.«
»Herein mit Ihnen, mein Bester, treten Sie ein! Wir warten schon auf Sie. Damit das Geheimsynedrion komplett ist, haha!«
Mit diesen Worten wurde der herausgeputzte Kollegienassessor von Moskaus allmächtigem Hausherrn Fürst Wladimir Andrejewitsch Dolgorukoi empfangen.
»Was stehen Sie auf der Schwelle herum? Kommen Sie, hier in den Sessel. Und die Uniform war ganz umsonst, erst recht der Degen! Vor mir dürfen Sie getrost im Rock erscheinen.« In den sechs Jahren, die Erast Fandorin in der Fremde verbracht hatte, war der Generalgouverneur sehr gealtert. Die kastanienbraunen Locken (sichtlich ein Kunstprodukt) wollten sich wenig vertragen mit dem von tiefen Runzeln gefurchten Gesicht, das Fehlen grauer Haare in dem hängenden Schnurrbart und den üppigen Koteletten war eher auffällig, und die allzu jugendliche Statur ließ ein Korsett vermuten. Fünfzehn Jahre nun schon lenkte der Fürst die Geschicke der Stadt, führte ein mildes, doch unnachgiebiges Regime.
»Das ist also unser Gast aus Übersee«, sagte der Gouverneur zu zwei Herren, einem in Uniform und einem in Zivil, die in Sesseln neben dem ausladenden Schreibtisch saßen. »Mein neuer Sonderbeauftragter, Kollegienassessor Fandorin. Aus St. Petersburg zu mir beordert. Hat zuvor in unserer Gesandtschaft im Königreich Japan Dienst getan, am Ende der Welt. Ich darf vorstellen: Jewgeni Ossipowitsch Karatschenzew, Polizeipräsident von Moskau. Unterpfand von Gesetz und Ordnung in dieser Stadt.« Er wies auf einen rothaarigen General mit leicht glupschenden braunen Augen, die ihm gelassen, doch aufmerksam entgegenblickten. »Und das ist mein Petruscha, für Sie Pjotr Parmenowitsch Chur 6
tinski, Hofrat und Vorsteher der Geheimabteilung bei der ' Generalgouverneurskanzlei. Was immer in Moskau passiert, Petruscha bekommt es spitz und hinterträgt es mir.«
Ein rundlicher Herr um die Vierzig, das dünne Haar auf dem länglichen Kopf akkurat gescheitelt, mit prallen Bäckchen, die auf der steif gestärkten Kragenbinde aufsaßen, und schläfrig hängenden Lidern, nickte gravitätisch.
»Es ist mitnichten ein Zufall, daß ich Sie an einem Freitag zu mir bestellt habe, mein Lieber«, sagte der Gouverneur in jovialem Ton. »Freitags um elf geruhen wir in dieser Runde diverse Angelegenheiten vertraulich-delikaten Charakters zu erörtern. Heute zum Beispiel haben wir eine heikle Frage anliegen: Wo kriegen wir das restliche Geld für die Ausmalung der Kathedrale her. Eine hochheilige Angelegenheit, die mir seit Jahren schwer im Magen liegt.«
Der Gouverneur bekreuzigte sich fromm, bevor er fortfuhr: »Die Künstler intrigieren gegeneinander, und Diebereien geschehen zur Genüge. Wir werden überlegen, wie wir aus den Moskauer Geldsäcken noch ein Milliönchen für die gottgefällige Sache herausschütteln. Nun denn, meine Herren Konspiranten, Sie waren zu zweit, nun sind Sie zu dritt. Wünsche Glück und Eintracht, wie man bei derlei Hochzeiten zu sagen pflegt. Sie sind ja, mein lieber Fandorin, just in diskreten Angelegenheiten zu mir bestellt, nicht wahr? Allerbeste Reputationen, geradezu beachtlich für Ihre Jugend. Ein gestandener Mann, darf ich hoffen.«
Bei diesen Worten blickte er dem Neuling forschend in die Augen, doch der hielt dem Blick stand, zeigte nicht einmal ein Zittern.
»Ich kenne Sie doch!« entsann sich Dolgorukoi auf einmal, womit er sich sogleich in den lieben Onkel zurückverwandelte. »War ich nicht bei Ihrer Trauung zugegen? Aber ja! Ich weiß es noch ganz genau ... Sie haben sich tüchtig rausgemacht, man erkennt Sie kaum wieder. Na, wir werden alle nicht jünger. Setzen Sie sich, mein Bester, setzen Sie sich, ich mag keine Umstände.«
Dabei zog er wie zufällig die Dienstliste des Neuen zu sich heran - zwar wußte er noch den Familiennamen, Vor- und Vatersnamen aber waren ihm entfallen. In derlei Dingen, das sagte dem Fürsten die Erfahrung, durfte man sich keine Blöße geben. Das konnte keiner gut vertragen, daß man ihn beim falschen Namen nannte, und Untergebene sollte man auf die Art schon gar nicht vor den Kopf stoßen.
Ach ja, Erast Petrowitsch - so hieß er, der schmucke junge Mann. Der Blick auf das geöffnete Dossier ließ den Fürsten jedoch die Stirn kraus ziehen, denn was es da zu lesen gab, war allerhand. Die Laufbahn seines neuen Mitarbeiters roch geradezu nach Komplikationen. Ein Eindruck, der sich auch bei näherem Hinsehen nicht verflüchtigte. Was sollte man von einer solchen Akte halten. Sechsundzwanzig Jahre alt, russisch-orthodoxe Konfession, Vater höherer Offizier, Geburtsort Moskau. So weit, so gut. Nach Abschluß des Gymnasiums auf eigenes Gesuch von der Moskauer Polizeikanzlei als Kollegienregistrator im Amte bestätigt und zum Schriftführer im Kriminalpolizeiamt bestellt. Auch das ließ sich nachvollziehen. Doch von hier an: Wunder über Wunder. Für besonderen Eifer im Dienst und hervorragende Pflichterfüllung auf Allergnädigstes Geheiß außerplanmäßig zum Titularrat befördert und dem Außenministerium unterstellt. Wie ging das zu, nach nur zwei Monaten? Und weiter unten in der Spalte »Auszeichnungen« kam es noch dicker: 'Wladimirorden 4. Klasse für den Vorgang »Asasel« (Geheimfonds des Sondergendarmeriekorps); Stanislausorden 3. Klasse für den Vorgang »Türkisches Gambit« (Geheimfonds des Kriegsministeriums); Annenorden 4. Klasse für den Vorgang »Diamantenkollier« (Geheimfonds des Außenministeriums). Nichts als Geheimnisse!