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Der Kaufmann verließ die Toilette sichtlich erfrischt. In Begleitung des Maitre betrat er den Saal. Sein trüber Blick glitt über die Tische mit den unerhört weißen Tischtüchern, auf denen es nur so glänzte von Silber und Kristall. Er spuckte auf den blankgewienerten Parkettboden (der Maitre krümmte sich vor Grausen), und endlich stieß sein Finger in die Richtung eines (gottlob unbesetzten) Tisches in Wandnähe. Zur Linken saßen zwei begüterte Studenten in Gesellschaft wiehernd lachender Modistinnen, zur Rechten ein rotbärtiger Herr im karierten Jackett. Der süffelte seinen Moselwein, den Blick zur Bühne gewandt.

Wäre Fandorin nicht durch den Agenten Kljujew vorgewarnt gewesen, er hätte Knabe niemals erkannt. Auch er ein Verwandlungskünstler! Was bei seinem Hauptberuf allerdings kein Wunder war.

Der jetzt aufbrandende Beifall war nicht einhellig, doch enthusiastisch. Wanda hatte die niedrige Bühne betreten: Schlank von Gestalt, schnell in den Bewegungen, glich sie in ihrem Glitzerkleid einer Märchenschlange.

»Mann, iss die dünne, da guckste ja durch!« fauchte eine der drallen Hutmacherinnen am Nachbartisch, die es kränkte, daß die beiden Studenten kein Auge von der Sängerin ließen.

Wanda schenkte dem Publikum einen schweifenden Blick aus weit aufgerissenen Strahleaugen und hob unvermittelt, ohne musikalisches Vorspiel, leise zu singen an - der Begleitpianist, der ein paar Takte später in die Melodie einfiel, häkelte nur ein Spitzengeflecht aus Akkorden um die tiefe, geradewegs zu Herzen gehende Stimme:

Am Kreuzweg wird begraben Wer selber sich brachte um; Dort wächst eine blaue Blume, Die Armesünderblum.

Am Kreuzweg stand ich und seufzte; Die Nacht war kalt und stumm. Im Mondschein bewegte sich langsam Die Armesünderblum.

Merkwürdiges Repertoire für ein Restaurant! dachte Fandorin, während er sich in den deutschen Liedtext hineinhörte. War das nicht etwas von Heine?

Im Saal war es sehr still geworden, und dann brach der Applaus los. Selbst die eben noch eifersüchtige Modistin rief »Bravo!«. Fandorin besann sich, aus der Rolle gefallen zu sein, doch war der unangemessen tiefsinnige Ausdruck auf seiner besoffenen Kaufmannsvisage wohl niemandem aufgefallen. Jedenfalls nicht dem rechts von ihm sitzenden Rotbart, der unverwandt zur Bühne sah.

Die letzten Akkorde der traurigen Ballade waren noch nicht verklungen, da gab Wanda, mit den Fingern schnipsend, schon einen neuen, schnelleren Rhythmus vor. Der Pianist schüttelte den Lockenkopf, pfuschte seinen Schluß aus dem Ärmel, dann hieb er alle zehn Finger in die Tasten, und das Publikum wiegte sich auf den Stühlen im Takt eines flotten kleinen Pariser Chansons.

Einer im Saal, der wie ein russischer Fabrikant aussah, verrichtete unterdessen eine eigentümliche Bastelei: Er hatte eine Blumenverkäuferin herangewinkt und ihrem Korb einen Strauß Stiefmütterchen entnommen, den er nun mit einer Hundertrubelnote umwand; damit schickte er das Mädchen zur Bühne. Wanda nahm die Blumen singend entgegen, roch daran und ließ sie mitsamt dem Geld zurückgehen. Der Fabrikant, der sich bis hierhin wie ein König aufgeführt hatte, sackte unübersehbar in sich zusammen und kippte zwei volle Gläser Wodka auf ex. All dies wurde im Saal mit Hohn zur Kenntnis genommen.

Fandorin vergaß seine Rolle kein zweites Mal. Er spielte ein wenig den Deppen: goß Champagner ins Teeglas und von da auf den Untersatz. Mit aufgeblasenen Backen nippte er davon - in winzigen Schlückchen, um jeden Rausch zu vermeiden, doch mit um so lauterem Schlürfen. Den Kellner schickte er nach mehr Champagner (»Aber keinen von La-nin! Moet, ungepanscht!«) und verlangte außerdem, daß für ihn ein Spanferkel gebraten werde, und zwar ein lebendiges, und er wolle es gefälligst vorher sehen, »sonst dreht ihr mir ein totes Viech aus dem Kühlhaus an, ich kenn euch deutsche Schlawiner.« Fandorins Hintergedanke war, daß es seine Zeit brauchen würde, bis man ein lebendes Ferkel auftrieb; inzwischen würde die Situation sich so oder so klären.

Knabe hinter seiner Maske äugte ungehalten zu dem zänkischen Nachbarn herüber, ohne sonderlich Anteil zu nehmen. Der Spion hatte schon viermal seine Breguet hervorgeholt, er war sichtlich nervös. Fünf Minuten vor acht kündigte Wanda das letzte Lied vor der Pause an und begann 50

eine sentimentale irische Ballade - von Molly, die sich nicht gedulden konnte, bis ihr Liebster aus dem Krieg heimkehrt. Nicht alle Augen im Saal blieben trocken.

Gleich ist sie fertig und kommt an Knabes Tisch! mutmaßte Fandorin und traf seine Vorkehrungen: Er ließ sich wie abgeschlafft vornüber fallen, die Stirn auf den Ellbogen, wobei er zugleich die Haarsträhne vom rechten Ohr wischte, und übte sich nun in der Schule der Konzentration, indem er alle Sinnesorgane mit Ausnahme des Gehörs abschaltete. Er verwandelte sich sozusagen in sein rechtes Ohr. Wandas Gesang kam jetzt wie von weit her, wohingegen Knabes Regungen, sie konnten noch so gering sein, in größter Klarheit vernehmlich waren. Der Deutsche saß wie auf Kohlen: knarrte mit dem Stuhl, scharrte mit den Füßen, und plötzlich klappten seine Absätze über das Parkett. Um sicherzugehen, drehte Fandorin den Kopf, öffnete das Auge einen Spalt - und konnte gerade noch sehen, wie der Rotbart durch einen Seitenausgang davonschlich.

Im Saal tobte der Beifall.

»Göttliche!« rief einer der Studenten ganz aufgewühlt. Die Modistinnen klatschten laut. Herrn Knabes stille Retirade war gar nicht nach Fandorins Geschmack. Im Zusammenspiel mit der Maske und dem falschen Namen schien sie sogar alarmierend.

Der Kaufmann erhob sich jäh, so daß sein Stuhl umkippte.

»Wir müssen dringend mal Pipipi!« hatte er der fröhlichen Gesellschaft am Nebentisch vertrauensvoll mitzuteilen und steuerte leicht schwankend auf den Seitenausgang zu. »Mein Herr!« rief der herbeieilende Kellner. »Die Toilette befindet sich nicht dort.«

»Geh weg!« verstieß ihn der Barbar, ohne sich umzudrehen. »Die Toilette befindet sich, w-w-wo ich will.«

Schreckensstarr verharrte der Kellner, wo er stand, während der Kaufmann breitbeinig davonwalzte. Oje, wie dumm: Auch Wanda war schon hinter die Kulissen gerauscht. Er mußte die Beine in die Hand nehmen.

Kurz vor der Tür ein neues Hindernis. Ein verzweifelt quietschendes Ferkel wurde dem kapriziösen Gast entgegengetragen.

»Hier haben wir das Bestellte!« wies ein schnaufender Koch stolz seine Trophäe vor. »Quicklebendig, quietschvergnügt. Gestatten Sie, es aufzuspießen?«

Fandorin blickte in die schreckgeweiteten rosa Schweinsäuglein und empfand auf einmal Mitleid mit der armen Kreatur, die anscheinend nur auf die Welt gekommen war, um im Wanst irgendeines Vielfraßes zu landen.

»Issa fillsu klein! Mussa erssnoch fettwern!« bellte der Kaufmann.

Entmutigt preßte der Koch sich den kleinen Paarhufer an die Brust, während der Grobian, gegen den Türpfosten prallend, auf den Korridor hinaustaperte.

Das hätten wir! dachte Fandorin fieberhaft. Rechts geht es ins Foyer. Also müssen Küche und Wandas Garderobe links liegen.

Im Laufschritt fegte er über den Korridor. Da ertönten von hinter der nächsten Ecke, aus einem dunklen Seitenflur, Gepolter und ein Schrei.

Fandorin stürzte dem Lärm entgegen und sah im nächsten Moment den Rotbart, wie er Wanda von hinten umklammert hielt, ihr eine Hand auf den Mund preßte, während die andere sich mit einer dünnen Stahlklinge Wandas Kehle näherte.

Die Sängerin hatte beide Hände in das breite, von roten Haaren bewucherte Handgelenk gekrallt, doch der Abstand zwischen feiner Klinge und dünnem Hals schmolz zusehends.

»Halt! Polizei!« brüllte Fandorin mit vor Erregung kippender Stimme, und nun bewies Herr Knabe eine nicht alltägliche Reaktionsschnelligkeit, indem er die zappelnde Wanda direkt in Fandorins Richtung schleuderte. Instinktiv fing der sie bei den mageren Schultern, worauf die Dame, wie Espenlaub zitternd, sich sofort in ihren Retter verkrallte. Der Deutsche war mit zwei Sätzen an ihnen vorbei und raste den Korridor entlang, warf jetzt eine Hand nach oben und fuhr sich mit der anderen in die Achselhöhle. Fandorin sah, wie diese Hand samt etwas Schwarzem, Schwerem herumschwenkte und riß Wanda mit sich zu Boden. Keine Sekunde zu früh - der Schuß hätte sie beide getroffen. Für einen Moment ertaubte Fandorin von dem Knall, der den schmalen Korridor ausfüllte. Dann hörte er Wanda wie von Sinnen winseln und spürte, wie sie sich unter ihn drängte.