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»Ich bin es, Fandorin!« keuchte er und versuchte sich zu erheben. »Lassen Sie mich los.« Doch er kam nicht auf die Füße. Wanda, am Boden liegend, hielt ihn eisern beim Knöchel gepackt und schluchzte hysterisch: »Warum tut er das, warum tut er das? Nicht allein lassen, bitte nicht!«

Alle Versuche, den Fuß freizubekommen, scheiterten - die Sängerin hing fest und ließ nicht locker. Fandorin versuchte es in absichtlich ruhigem Ton: »Warum er das tut, wissen Sie selbst am besten. Wir haben Gott sei dank noch mal Glück gehabt.«

Behutsam, doch resolut befreite er seinen Knöchel aus Wandas Griff und lief, den Spion einzuholen. Am Portal stand ja Kljujew, fiel ihm ein. Ein erfahrener Agent. Der ließ ihn nicht entwischen. Der hielt ihn wenigstens auf.

Doch als Fandorin aus der Tür des Restaurants auf die Straße sprang, mußte er erkennen, daß die Sache miserabel stand. Knabe saß schon in dem englischen Einsitzer, der unter der Bezeichnung »Egoist« bekannt war, und peitschte auf seinen sehnigen Falben ein. Das Pferd ging mit den Vorderhufen in die Luft und ruckte so heftig an, daß es den Deutschen gegen die Lehne schleuderte.

Der erfahrene Agent Kljujew saß, die Hände gegen den Kopf gepreßt, auf dem Trottoir. Zwischen den Fingern sickerte Blut hervor.

»Tut mir leid, er ist mir entwischt«, stöhnte er dumpf. »Ich brülle halt! - und er zieht mir den Pistolengriff übern Schädel.«

»Komm hoch!« Fandorin packte den Verletzten bei der Schulter und zwang ihn zum Aufstehen. »Er haut uns ab!«

Kljujew riß sich zusammen, verschmierte die rote Brühe auf seinem Gesicht und taumelte seitwärts zur Kalesche.

»Ich bin schon in Ordnung, es verschwimmt bloß alles«, murmelte er, während er auf den Bock kroch.

Mit einem Sprung saß Fandorin auf der Hinterbank, Kljujew schüttelte die Zügel, und das fuchsrote Pferdchen begann über das Pflaster zu traben, legte immer mehr zu. Doch es lief zu langsam, viel zu langsam. Der Egoist war schon an die hundert Schritt voraus. »Schneller!« brüllte Fandorin auf den schlaffen Kljujew ein. »Schneller!«

Mit einem Affentempo fegten die beiden Kutschen aus der kleinen Sofijka auf die breite Lubjanka - Häuser, Ladenschilder, vom Donner gerührte Passanten flogen vorbei -, und hier ging die wilde Jagd erst richtig los. Der Schutzmann, der gegenüber dem Photoatelier Möbius postiert war, pfiff mißbilligend, drohte den Störern der öffentlichen Ordnung mit der Faust, mehr konnte er nicht tun. Ach, jetzt müßte man einen Telefonapparat in der Kutsche haben! kam Fandorin der flüchtige Gedanke, man könnte Karatschenzew antelefonieren, damit er uns ein paar Wagen vom Gendarmerieamt entgegenschickte. Eine unsinnige Phantasie im unrechten Augenblick - alle Hoffnung lag auf dem fuchsroten Pferd. Und das plagte sich nach Kräften, warf die kräftigen Fesseln, schüttelte die Mähne, schielte zurück aus irre glupschendem Auge: ist's genug? noch eins drauf? etwa immer noch eins?

Noch eins drauf, mein Liebes, immer noch eins! flehte Fandorin still. Kljujew schien sich etwas gefangen zu haben, er stand aufrecht, ließ die Peitsche knallen und johlte aus vollem Halse, so als jagte Mamais wilde Tatarenhorde durch die abendlich stille Straße.

Der Abstand zum Egoisten hatte sich verringert. Beunruhigt blickte Knabe sich öfters um, und wahrscheinlich sah er, daß so kein Entkommen war. Als nur noch etwa dreißig Schritt die beiden Wagen trennten, drehte der Spion sich um, streckte die linke Hand mit dem Revolver aus und schoß. Kljujew duckte sich.

»Verdammt, nicht schlecht gezielt! Knapp übers Ohr gepfiffen! Der ballert aus 'nem Reichsrevolver! Schießen Sie doch, Euer Hochwohlgeboren! Auf das Pferd! Sonst entkommt er!«

»Was kann das Pferd denn dafür?« knurrte Fandorin, der noch das Ferkel vor Augen hatte. Nicht das jedoch war sein Problem - fürs Vaterland hätte er den Falben gewiß aufs Spiel gesetzt. Aber sein Herstal Agent war für einen gezielten Schuß aus solcher Entfernung schlicht ungeeignet. Was, wenn er statt des Pferdes diesen Herrn Knabe traf? Die gesamte Operation wäre gescheitert.

An der Ecke Sretenski-Boulevard drehte der Deutsche sich erneut um, und diesmal zielte er etwas länger, bevor ein Rauchwölkchen aus der Mündung seines Revolvers stieg. Im selben Moment fiel Kljujew rücklings um - gerade auf Fandorin. Ein Auge schaute dem Kollegienassessor erschrocken ins Gesicht, das andere war eine Grube, die sich binnen kurzem mit Blut füllte.

»Euer Hochwohl-« suchten die Lippen das Wort zu formen und kamen nicht zu Ende damit.

Die Kalesche drehte ab, und Fandorin sah sich gezwungen, den auf ihm Liegenden gnadenlos beiseite zu stoßen. Er griff nach den Zügeln und straffte sie - gerade noch rechtzeitig, bevor der Wagen am gußeisernen Randgitter des Boulevards zu zerschellen drohte. Im nächsten Moment war die Fahrt zu Ende. Das außer Rand und Band geratene Pferd versuchte weiterzurasen, doch das linke Vorderrad hing an einem Poller fest.

Fandorin beugte sich über den Agenten und sah, daß das verbliebene Auge den Ausdruck des Schreckens verloren hatte, es blickte starr und konzentriert nach oben, so als hätte Kljujew dort etwas sehr Interessantes erspäht - interessanter als alles, was zwischen Himmel und Erde war.

Mechanisch ging Fandorins Hand zum Kopf, den Hut abzunehmen, doch es gab keinen, der eindrucksvolle Zylinder war an der Garderobe der »Alpenrose« zurückgeblieben. Großartige Bilanz: Agent tot, Knabe entwischt.

Aber wohin eigentlich? Die Wohnung in der Karetny war vermutlich Knabes einziger Rückzugsort. Dorthin mußte er auf jeden Fall, und wenn es nur fünf Minuten waren: Geld holen, einen Ersatzpaß vielleicht, kompromittierendes Material vernichten ...

Zum Trauern war dies nicht der rechte Moment. Fandorin faßte den Toten unter den Achseln, zog ihn aus der Kalesche und lehnte ihn mit dem Rücken gegen das Gitter.

»Bleib hier erst mal sitzen, Kljujew«, murmelte der Detektiv, und ohne auf die Passanten achtzugeben, welche die Szene erschrocken und neugierig verfolgten, kroch er zurück auf den Bock.

Vor dem Portal des ansehnlichen Bürgerhauses, wo im zweiten Obergeschoß die Filiale des Bankhauses Kerbl & Schmidt residierte, stand der bekannte Egoist. Das Pferd, ganz von Schaum bedeckt, trat nervös auf der Stelle und ließ den nassen Kopf pendeln. Fandorin stürzte in den Eingang.

»Halt, wohin?« rief ein bulliger Portier und packte ihn beim Arm, bekam jedoch im nächsten Augenblick einen trockenen Fausthieb gegen die Schläfe und flog zur Seite. Oben klappte eine Tür. Bestimmt im zweiten Stock! peilte Fandorin und jagte, drei Stufen auf einmal nehmend, den Herstal im Anschlag, die Treppe hinauf. Zweimal schießen -auf die rechte und auf die linke Hand! schärfte er sich ein. Denn der Kerl hatte Wanda mit der Rechten erstechen wollen, geschossen hatte er mit der Linken. Ein Beidhänder.

Da war auch schon die Tür mit dem Kupferschildchen: Hans-Georg Knabe. Fandorin drückte auf die Bronzeklinke. Die Tür war unverschlossen. In schnellen, doch überlegten Schritten - die Hand mit dem Revolver ausgestreckt, die Sicherung entriegelt - rückte er vor.

In dem langgestreckten Wohnungsflur war es duster - nur durch ein offenstehendes Fenster an seinem Ende fiel Licht herein. Darum übersah Fandorin, gefaßt auf eine von vorn oder der Seite drohende Gefahr, das längliche Etwas zu seinen Füßen, stolperte und wäre beinahe lang hingeschlagen. Blitzschnell fuhr er herum, setzte zum Schuß an - doch das war überflüssig.