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Mit diskreter Aufmerksamkeit schielte Fandorin nach seinem hochrangigen Vorgesetzten und hatte schnell einen ersten Eindruck gewonnen, der alles in allem günstig ausfiel. Fürst Dolgorukoi war nicht mehr der Jüngste, schien die Gedanken jedoch noch gut beisammen zu haben und zudem recht pfiffig zu sein. Auch die Verwunderung im Gesicht Seiner Durchlaucht, während er in die Dienstliste Einsicht nahm, entging dem Kollegienassessor mitnichten. Fandorin seufzte mitfühlend: Zwar hatte er noch nie in seiner Akte gelesen, konnte sich jedoch ungefähr vorstellen, was dort stand.

Die anhaltende Pause nutzend, nahm Fandorin nunmehr auch die beiden Staatsdiener in Augenschein, denen es von Amtes wegen oblag, in alle Moskauer Geheimnisse eingeweiht zu sein. Churtinski zeigte ein serviles Blinzeln, ein Lächeln auch, das jedoch nur die Lippen betraf - dem Anschein nach freundlich, doch sichtlich nicht ihm, seinem Gegenüber, sondern einer ganz eigennützigen Phantasie zugekehrt. Auf das Hofratslächeln ging Fandorin gar nicht erst ein - er kannte diesen Menschenschlag nur zu gut und mochte ihn überhaupt nicht leiden. Da gefiel ihm der Polizeipräsident schon besser, ihm widmete er ein kleines Lächeln, das freilich jeder Schmeichelei entbehrte. Der General nickte höflich zurück, wobei sein Blick dem jungen Mann sonderbar mitfühlend vorkam. Fandorin beschloß, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen (er würde schon noch erfahren, was dahinter steckte), und wandte sich wieder dem Fürsten zu. Der hatte inzwischen in das stumme, die Grenzen des Anstands wahrende Blickgeplänkel eingegriffen.

Auf der Stirn Seiner Durchlaucht stand eine steile, tiefe Falte, die für eine ausgeprägte Nachdenklichkeit sprach. Und im Zentrum dieser Nachdenklichkeit die besorgte Frage: Dich wird mir doch nicht die Kamarilla auf den Hals geschickt haben, mein Junge? Um mir womöglich ein Beinchen zu stellen? Das sähe denen doch sehr ähnlich. Ein Karatschenzew reicht wohl noch nicht.

Das Mitgefühl in den Augen des Polizeipräsidenten hatte indes ganz andere Ursachen. In dessen Tasche steckte nämlich ein Brief seines direkten Vorgesetzten, des Ministerialdirektors der Staatspolizei Wjatscheslaw Plewako. Darin schrieb ihm sein alter Freund und Wohltäter unter dem Siegel des Vertrauens, Fandorin sei ein gescheiter und verdienstvoller Mann, auf den damals Seine Majestät, Gott habe ihn selig, und insbesondere der Ex-Gendarmeriechef große Stücke hielten, doch in den Jahren seines Auslandsdienstes habe er den Anschluß an die große Politik verloren und sei darum nach Moskau geschickt worden, weil man in der Hauptstadt keine Verwendung für ihn habe. Jewgeni Karatschenzew kam der junge Mann auf den ersten Blick sympathisch vor - die Luchsaugen vor allem und die aufrechte Haltung. Der Ärmste! Er wußte nicht, daß man ihn höhererseits schon abgeschrieben hatte. Zum alten Eisen befördert, aufs Abstellgleis geschoben ... Das war es ungefähr, was General Karatschenzew durch den Kopf ging.

Was unterdessen Pjotr Churtinski dachte, konnte keiner wissen. Die Gedanken dieses Mannes gingen allzu geheime Wege.

Dem stummen Intermezzo wurde durch den Auftritt einer neuen Person ein Ende bereitet, die lautlos aus einem der hinteren Gouverneursgemächer hereingeschwebt war: ein betagter Diener in abgewetzter Livree, lang und dürr, mit blankem Kahlschädel und gut geölten und gebürsteten Koteletten. Der Alte trug ein silbernes Tablett mit kleinen Fläschchen und Gläschen.

»Durchlaucht«, schnarrte der Diener in nöligem Ton, »jetzt wird es mal Zeit für den Trunk gegen die Verstopfung. Sonst beschwert Ihr Euch hinterher wieder und sagt, der Frol hat mich nicht dran erinnert, jaja. Schon vergessen das Ach und Weh von gestern? Auf das Mündchen!«

Genauso ein Tyrann wie mein Masa! dachte Fandorin. Obwohl von ganz anderem Schlag. Man hat's nicht leicht mit seinen Dienern!

»Ja doch, mein lieber guter Frol!« streckte der Fürst sogleich die Waffen. »Ich trink ja schon, ich trink ja schon. Das hier, Fandorin, ist mein Kammerdiener Frol Wedischtschew. Hält mich seit Kindesbeinen an der Kandare. Und was ist mit Ihnen, meine Herren? Wollen Sie

auch einen? Kräuter vom Besten. Schmeckt widerlich, hilft aber bei Hartleibigkeit ungemein, stimuliert den Darm in vorzüglicher Weise. Frol, schenk ihnen auch einen ein.« Karatschenzew und Fandorin lehnten rundweg ab, während Churtinski sein Gläschen trank und sogar versicherte, der Geschmack habe etwas.

Frol kredenzte seinem Fürsten den Trunk mit süßem Fruchtlikör und einem Scheibchen Butterbrot (Churtinski bekam keines), dann wischte er Seiner Durchlaucht mit einer Batistserviette über die Lippen.

»Ich frage mich, mein lieber Fandorin, mit was für Sonderaufgaben ich Sie betrauen soll?« Dolgorukoi, dessen Augen vom Likörchen einen öligen Glanz angenommen hatten, hob ratlos die Arme. »Da fällt mir beim besten Willen nichts ein. Mit Geheimberatern bin ich gut versorgt, wie Sie sehen. Aber das muß Sie nicht verdrießen. Gewöhnen Sie sich erst mal ein bißchen ein, orientieren Sie sich ...« — und derweil erkundigen wir uns, was für ein Vögelchen du bist! beendete er seinen Satz im stillen, während eine Hand vage in der Luft hängenblieb.

An dieser Stelle schlug die Standuhr elf Mal (ein uraltes Modell, dessen Front ein Basrelief mit Szenen von der Einnahme der Festung Ismail schmückte), das dritte Glied in der Kette unheilvoller Zufälligkeiten hakte sich ein.

Die Tür zum Vorzimmer ging, ohne daß zuvor angeklopft worden wäre, einen Spalt auf, darin erschien das verzerrte Gesicht des Sekretärs. Herein führ - unsichtbar, doch nicht zu verkennen - der Blitzschlag des Besonderen Vorkommnisses.

»Ein Unglück, Durchlaucht!« verkündete der Beamte mit bebender Stimme. »General Sobolew ist tot! Seine persönliche Ordonnanz Jessaul Gukmassow bittet vortreten zu dürfen.«

Die Wirkung dieser Neuigkeit auf die Anwesenden fiel, je nach ihrem Naturell, unterschiedlich aus. Der Generalgouverneur begegnete dem Überbringer mit einer abwehrenden Handbewegung - geh! mochte das heißen, ich glaube dir nicht! -, bevor er sich mit selbiger Hand bekreuzigte. Der Chef der Geheimabteilung riß die Augen nur für einen Moment weit auf, dann senkten sich seine Lider sogleich wieder. Der rothaarige Polizeipräsident war aufgesprungen. Auf dem Gesicht des Kollegienassessors schließlich gab es zwei widerstreitende Gefühle zu beobachten: Heftige Erregung wurde abgelöst von Skepsis, die im Verlauf der nachfolgenden Szene nicht von ihm wich.

»Ich lasse bitten, Innokenti!« befahl Dolgorukoi seinem Sekretär in gefaßtem Ton. »Was für ein Unglück.«

Ins Zimmer trat, gemessenen Schrittes und mit klirrenden Sporen, derselbe verwegene Offizier, der im Hotel partout nicht in Fandorins ausgebreitete Arme hatte sinken wollen. Er war nun wohlrasiert und trug die Paradeuniform eines Leibkosaken; die Ikonostase der Verdienstkreuze und Medaillen schien komplett.