»Jessaul Gukmassow, Oberordonnanz des Generaladjutanten Michail Dmitrijewitsch Sobolew, Durchlaucht! Eine betrübliche Nachricht ...« Der Offizier hatte sichtlich mit sich zu kämpfen, zerrte an seinem schwarzen Räuberschnurrbart, ehe er fortfahren konnte. »Der Herr Kommandeur des Vierten Korps ist gestern auf der Durchreise von Minsk nach seinem Rjasaner Gut in Moskau eingetroffen und im Hotel >Dusseaux< abgestiegen. Heute morgen, wie der Herr ewig nicht aus seinem Zimmer kam, fingen wir an, uns Sorgen zu machen, und klopften an seine Tür - keine Antwort. Also wagten wir uns einzutreten, und da ...« - der Jessaul unternahm eine weitere heldenhafte Anstrengung, die Stimme im Griff zu behalten, es gelang ihm - »... da sahen wir den Herrn General im Sessel sitzen. Tot. Wir riefen den Arzt. Der sagte, er kann nichts mehr tun. Der Körper war schon kalt.« »Ei-ei-ei!« Der Gouverneur stützte den Kopf in die Hand. »Wie kann das zugehen? Der General war doch ganz jung. Noch keine vierzig, oder irre ich mich?«
»Achtunddreißig, etwas über achtunddreißig«, bestätigte der Jessaul mit unverändert gepreßter, dem Brechen naher Stimme und zwinkerte sich die Tränen aus den Augen. »Aber was ist die Todesursache?« fragte Karatschenzew mit gefurchter Stirn. »War der General denn krank?«
»Überhaupt nicht. Er war wohlauf und bester Dinge. Der Arzt vermutet einen Schlaganfall oder eine Paralyse des Herzens.«
»Gut, du kannst gehen, geh jetzt!« entließ der erschütterte Fürst die Ordonnanz des Generals. »Ich werde alles Nötige veranlassen und den Zaren in Kenntnis setzen. Geh!« Als die Tür sich hinter dem Jessaul geschlossen hatte, ächzte er fassungslos.
»Auwei, meine Herren, das kann heiter werden. So ein Mann. Rußlands Liebling! Was sage ich, ganz Europa kennt den Weißen General... Ich wollte ihn heute noch visitieren ... Petruscha, schick Seiner Majestät eine Depesche, du weißt, wie so was am besten ... Das heißt, nein, zeig's mir lieber vorher noch mal. Und anschließend kümmerst Du dich um die Staatstrauer, die Beisetzungsfeierlichkeiten und so weiter ... Du kennst das ja. Sie, Karatschenzew, bitte ich für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen. Wenn die Sache bekannt wird, kommt ganz Moskau vor das >Dusseaux< geströmt. Sehen Sie zu, daß keiner in Ohnmacht fällt und erdrückt wird. Ich kenne meine lieben Moskauer. Daß mir alles Form und Anstand hat!«
Der Polizeichef nickte und nahm seinen Berichtsordner, der auf dem Sessel gelegen hatte, an sich.
»Sie erlauben, daß ich mich entferne, Durchlaucht?«
»Tun Sie das. Oje-oje, das gibt Aufregung, das gibt eine Riesenaufregung.« Der Fürst schrak auf. »Was, wenn es dem Zaren einfällt anzureisen, meine Herren? Bestimmt wird er das tun! Da hat nicht irgendwer das Zeitliche gesegnet. Der Held von Plewna und Turkestan, der Ritter ohne Furcht und Tadel, den man nicht umsonst Achilles nennt. Wir müssen den Kremlpalast herrichten. Darum kümmere ich mich selbst.«
Churtinski und Karatschenzew, bereit, den Anordnungen Folge zu leisten, waren schon auf dem Weg zur Tür, während der Kollegienassessor seelenruhig im Sessel sitzen blieb und den Fürsten etwas verwundert ansah.
»Ach ja, mein lieber Fandorin«, erinnerte Dolgorukoi sich an seinen Neuzugang. »Um Sie kann ich mich jetzt nicht kümmern, Sie sehen ja selbst. Richten Sie sich ein fürs erste! Und bleiben Sie in Reichweite. Vielleicht gibt es für Sie was zu tun. Arbeit ist für alle da. Oje-oje, was für eine Geschichte.«
»Aber sagen Sie, Eure Ho-Hoheit: Es wird doch wohl Ermittlungen geben?« reagierte Fandorin mit einer überraschenden Frage. »Ich meine, bei so einer Persönlichkeit von Rang. Und die seltsamen Umstände des Todes ... Da muß doch ermittelt werden.«
»Wieso ermitteln?« Der Fürst furchte unwirsch die Stirn. »Sie hören doch, der Zar ist im Anmarsch!«
»Ich für meinen Teil habe allen Grund zur Annahme, daß die Sache nicht astrein ist!« versetzte der Kollegienassessor mit umwerfender Gelassenheit.
Seine Äußerung schlug ein wie eine Bombe.
»Was sind denn das für dämliche Phantasien!« schnauzte Karatschenzew. In dem Moment hatte der junge Mann sich alle Sympathien bei ihm verscherzt.
»Anhaltspunkte!« warf Churtinski verächtlich hin. »Hätten Sie dafür irgendwelche Anhaltspunkte? Wie wollen Sie überhaupt von der Sache eine Ahnung haben?«
Fandorin sah den Hofrat nicht einmal an; dem Gouverneur zugewandt, sagte er: »Ich bitte in Betracht zu ziehen, Durchlaucht, daß ich zufällig auch im >Dusseaux< abgestiegen bin - Punkt eins. Den General Sobolew kenne ich seit langem. Er pflegt im ersten Morgengrauen aufzustehen. Sich vorzustellen, er könnte bis in die Puppen schlafen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Spätestens um sechs hätte sein Gefolge unruhig werden müssen - Punkt zwei. Jessaul Gukmassow, mir gleichfalls gut bekannt, bekam ich um halb neun zu Gesicht. Und zwar unrasiert - Punkt drei.«
Hier machte Fandorin eine vielsagende Pause - so als hätte sein letzter Punkt entscheidendes Licht in die Sache bringen müssen.
»Ja, und? Was hat das zu besagen?« fragte der Polizeipräsident verblüfft.
»Es hat zu besagen, Durchlaucht, daß es nie und unter keinen Umständen vorstellbar ist, Gukmassow um halb neun Uhr morgens in unrasiertem Zustand zu begegnen. Ich habe mit dem Mann die B-b-... Balkantour absolviert. Er ist in dieser Hinsicht absolut pedantisch und hat sein Zelt nie unrasiert verlassen, selbst wenn es kein Wasser gab und er zu diesem Zweck Schnee zum Tauen bringen mußte. Ich vermute, daß Gukmassow schon seit dem frühen Morgen vom Tod seines Vorgesetzten wußte. Wenn dem so ist - warum hat er so lange geschwiegen? Punkt vier. Das muß genauer untersucht werden. Erst recht, wenn der Z-z-... der Zar im Anmarsch ist.«
Die letzte Bemerkung schien den Gouverneur am allermeisten zu beeindrucken. »Fandorin hat recht«, sagte der Fürst und erhob sich. »Es ist eine Staatsangelegenheit. Ich ordne hiermit eine vertrauliche Untersuchung der Umstände an, die zum Ableben des Generaladjutanten Sobolew geführt haben. Und um eine Obduktion werden wir da wohl nicht herumkommen. Aber ich bitte Sie, Karatschenzew, seien Sie vorsichtig, lassen Sie nichts Unnötiges verlauten. Es wird ohnehin genug Gerüchte geben ... Petruscha, um die Gerüchte kümmerst du dich, ich möchte einen Sammelbericht darüber. Die Ermittlungen leiten selbstverständlich Sie, Karatschenzew. Und vergessen Sie nicht, die Einbalsamierung zu veranlassen. Es werden viele kommen, von ihrem Helden Abschied zu nehmen, und wir haben einen heißen Sommer. Da verdirbt er schneller, als man denkt. Was Sie angeht, Fandorin - wenn das Schicksal Sie schon mal im >Dusseaux< einquartiert hat und Sie den Verstorbenen so gut kennen, versuchen Sie Ihr Glück und ermitteln Sie ein bißchen auf eigene Faust, partikulär sozusagen. Zum Glück kennt Sie in Moskau noch keiner. Hieß es nicht, Sie seien zuständig für besondere Aufgaben? Da haben Sie eine. Besonderer geht es nicht.«
ZWEITES KAPITEL,
in welchem Fandorin die Ermittlungen aufnimmt
Wie Erast Fandorin die Umstände, die zum Tod des vielgerühmten Heerführers und Lieblings der Nation geführt hatten, zu ermitteln anfing, war sonderbar. Nachdem der junge Mann sich unter größten Mühen zum Hotel durchgekämpft hatte, das mit einem doppelten Polizeikordon geschützt und von vielen trauernden Moskauern umringt war (seit eh und je breiten sich Hiobsbotschaften in der altehrwürdigen Stadt schneller aus als die gefräßigsten Brände), ging er, ohne nach links und nach rechts zu sehen, hinauf in seine N- 20, warf dem Diener Mütze und Degen zu und schüttelte auf alle neugierigen Fragen nur kurz mit dem Kopf. So wußte Masa Bescheid, verbeugte sich und rollte auf dem Fußboden geschwind eine Strohbastmatte aus. Der kurze Degen wurde respektvoll in Seide gehüllt und im Chiffonier verstaut, dann trat der Diener wortlos auf den Korridor hinaus, nahm mit dem Rücken zur Zimmertür Aufstellung und stand da wie der grimmige Feuergott Fudomyo. Kam jemand den Flur entlang, legte er vorwurfsvoll zischelnd den Finger an die Lippen und wies mit der anderen Hand abwechselnd auf die verschlossene Tür hinter sich und auf die Gegend um seinen Bauchnabel. Infolgedessen sprach es sich auf der Etage herum, in N- 20 sei eine schwangere chinesische Prinzessin untergekommen und gar wohl schon am Kreißen.