Währenddessen saß Fandorin absolut reglos auf seiner Matte. Knie ebenmäßig gespreizt, Körper entspannt, Handflächen nach oben gekehrt. Den Blick hielt der Kollegienassessor auf den eigenen Bauch gerichtet - auf den untersten Knopf seiner Uniformjacke, um genau zu sein. Irgendwo dort, unter dem goldenen doppelköpfigen Adler, befand sich der magische Punkt Tanden, Quelle und Zentrum geistiger Energie. Wenn man sich frei macht von allen Gedanken und ganz auf das eigene Selbst konzentriert, dann wird die Seele erleuchtet, und noch das heikelste Problem erscheint einem einfach, verständlich und klar. Fandorin mühte sich nach Kräften um Freimachung und Erleuchtung, was durchaus nicht so leicht und überhaupt nur durch ausgiebiges Training zu erreichen war. Seine angeborene Beweglichkeit im Denken und die hieraus entspringende Ungeduld waren für diese Konzentrationsübungen von Nachteil. Doch der edle Mann geht, wie Konfuzius sagte, nicht den leichten, sondern den schweren Weg, und darum starrte Fandorin hartnäckig auf den vermaledeiten Knopf und wartete auf Ergebnisse.
Zunächst wollten sich die Gedanken durchaus nicht zurückdrängen lassen. Im Gegenteil, wie Fische im zu flachen Wasser klatschten und platschten sie hin und her. Aber allmählich traten die Geräusche der Außenwelt zurück, verschwanden ganz, die Fischlein glitten in tieferes Wasser, im Kopf wallte Nebel. Fandorin hielt den goldenen Kreis mit dem Wappen im Auge und dachte an gar nichts. Eine Sekunde oder eine Minute, vielleicht auch eine Stunde später war es soweit. Der kaiserliche Adler nickte kurz mit beiden Köpfen, die Krone funkelte auf, und Fandorin zuckte zusammen. Der Plan, nach dem vorzugehen war, stand fest.
Fandorin rief Masa herein, hieß ihn den Gehrock bringen, und während er sich umzog, erläuterte er seinem Vasallen kurz und knapp, worum es ging.
Die ersten Schritte unternahm der Detektiv innerhalb des Hotels. Vom Vestibül begab er sich zur Pförtnerloge und von da ins Restaurant. Was er mit der Dienerschaft zu besprechen hatte, war nicht in einer und nicht in zwei Stunden erledigt, so daß der Tag sich zum Abend neigte, die Schatten lang geworden waren und das Sonnenlicht zäh und dick wie Lindenblütenhonig, als Fandorin sich endlich vor der Tür zu dem Hotelflügel einfand, den man hier schon die Sobolew-Suite nannte.
Fandorin wies sich dem Gendarmen aus, der die Tür bewachte, und wurde in die Bannzone der Trauer vorgelassen, wo man nur im Flüsterton sprach und auf Zehenspitzen lief. N2 47, das Appartement, wohin der tapfere General gestern eingezogen war, bestand aus Wohn- und Schlafzimmer. In ersterem drängten sich etliche Leute: Fandorin erkannte Karatschenzew inmitten weiterer Polizeibeamter, hinzu kamen die Adjutanten und Ordonnanzen des Toten, der Hotelchef, und in einer Ecke, still vor sich hinheulend, saß Lukitsch -Sobolews allseits bekannter Kammerdiener. Alle schienen sie auf etwas zu warten, schielten verstohlen nach der Tür zum Schlafzimmer. Der Polizeichef kam auf Fandorin zu und brummte halblaut: »Der Gerichtsmediziner Professor Welling ist drinnen und macht die Obduktion. Es zieht sich hin. Er könnte sich ruhig ein bißchen sputen.« Wie um dem Wunsch des Generals zu entsprechen, ging in diesem Moment die weiße, mit geschnitzten Löwenköpfen verzierte Tür knarrend auf. Sofort wurde es im Raum still. Ein grauhaariger Mann, mürrisch blickend, mit hängender Unterlippe, erschien auf der Schwelle. An seiner Brust über der Lederschürze prangte das Annenkreuz.
»So, Exzellenz, ich bin soweit«, knurrte der Mann, augenscheinlich der Professor. »Ich kann Ihnen Bericht geben.«
Der General blickte sich im Zimmer um und sagte mit munter werdender Stimme: »Gut! Fandorin, Gukmassow und Sie« - er nickte dem Hotelchef zu - »kommen mit rein. Die anderen bitte ich hier zu warten.«
Das erste, was Fandorin beim Eintreten ins Totengemach sah, war der mit einem schwarzen Schleier verhängte Spiegel im verschnörkelten Bronzerahmen. Der Leichnam lagerte nicht auf dem Bett, sondern auf einem Tisch, den man offenbar aus dem Nachbarraum herübergeschoben hatte. Fandorin schaute auf die unter dem weißen Laken sich abzeichnende Kontur, bekreuzigte sich, und bei dem Gedanken an den schönen, starken und mutigen Mann, den er gekannt und der sich nun in diesen länglichen, unförmigen Gegenstand verwandelt hatte, vergaß er für einen Moment seine Ermittlungen. »Die Sache ist klar«, begann der Professor nüchtern seinen Bericht. »Etwas Verdächtiges war nicht zu entdecken. Ich werde noch ein paar Analysen im Laboratorium anstellen, bin mir aber schon jetzt absolut sicher, daß die Lebensfunktionen infolge Paralyse des Herzmuskels zum Stillstand gekommen sind. Gleichzeitig liegt eine Paralyse des rechten Lungenflügels vor, die wir aber wohl eher als Folge denn als Ursache anzusehen haben. Der Tod ist augenblicklich eingetreten. Selbst wenn ein Mediziner in der Nähe gewesen wäre, hätte er nichts auszurichten vermocht.«
»Aber der Mann war doch das blühende Leben! Mit allen Wassern gewaschen!« Karatschenzew trat zum Tisch und schlug den Rand des Lakens zurück. »Der kann doch nicht einfach so gestorben sein!«
Gukmassow wandte sich brüsk ab, um seinem Vorgesetzten nicht in das tote Gesicht sehen zu müssen, während Fandorin und der Hotelchef näher traten. Das Antlitz des Toten wirkte ruhig und gefaßt. Selbst der berühmte wuchernde Backenbart, Zielscheibe des Spotts für die Liberalen im Lande und für die Karikaturisten in aller Welt, schien mehr denn je am Platz, gab dem wächsernen Gesicht einen Rahmen von Würde.
»Ach, was für ein Recke, ein echter Achilles«, murmelte der Hotelchef mit dem gurrenden R eines Franzosen.
»Was läßt sich über den Zeitpunkt des Todes sagen?« fragte Karatschenzew.
»Letzte Nacht zwischen ein und zwei Uhr«, gab Welling, ohne zu zögern, an. »Nicht früher und nicht später.«
Der General drehte sich nach dem Jessaul um.
»Gut. Nachdem die Todesursache festgestellt ist, können wir in die Einzelheiten gehen. Legen Sie los, Gukmassow. So ausführlich wie möglich.«
Ausführlichkeit schien Gukmassows Sache nicht zu sein. Sein Bericht geriet knapp, doch unmißverständlich.
»Gegen sechs sind wir vom Brjansker Bahnhof hier angekommen. Seine Exzellenz haben geruht bis zum Abendessen. Das gab's um neun im Restaurant. Dann haben Seine Exzellenz noch eine Spazierfahrt gemacht. Moskau bei Nacht. Gehalten haben wir nirgends. Kurz nach Mitternacht hieß es, genug jetzt, zurück ins Hotel. Seine Exzellenz wollten noch ein paar Aufzeichnungen machen, weil, er hat ja an der neuen Schlachtordnung gearbeitet.«
Gukmassow schielte nach dem beim Fenster stehenden Sekretär, auf dessen ausgeklappter Schreibplatte Papiere verstreut lagen. Ein Stück zur Seite gerückt stand der Armstuhl. Karatschenzew ging hin, griff nach einem der beschriebenen Blätter, nickte ehrfürchtig. »Ich ordne an, die Papiere sicherzustellen und Seiner Majestät persönlich zu übergeben. Fahren Sie fort, Gukmassow.«
»Den Herren Offizieren gestatteten Seine Exzellenz, über sich zu verfügen. Er wollte zu Fuß nachkommen, ihm war nach einem Spaziergang.«
Karatschenzew blickte erstaunt auf.
»Und Sie haben den General alleine ziehen lassen? Mitten in der Nacht? Äußerst merkwürdig.«
Er warf einen bedeutungsvollen Blick zu Fandorin hinüber, der sich um dieses Detail jedoch nicht im geringsten zu bekümmern schien. Statt dessen stand der Kollegienassessor vor dem Sekretär und fuhr mit dem Finger über den bronzenen Wandkandelaber.