Eine Verfolgungsjagd?
Ahimaaz konnte keine Verfolger hören.
Vor dem Haus ließ der Spion die Zügel fahren und stürzte in den Eingang. Es war soweit.
Ahimaaz ging hinter dem Garderobenständer im Flur in Stellung - den Platz hatte er sich vorhin mit Sorgfalt ausgesucht. In der Hand ein spitzes Küchenmesser.
Die Wohnung war präpariert: um und um gewühlt, die Schränke entleert, sogar das Federbett aufgeschlitzt. Ein mit grober Hand fingierter Raubüberfall. Herr Fandorin sollte den Eindruck gewinnen, als wäre Herr Knabe von den eigenen Leuten umgebracht worden, die wiederum nicht sehr geschickt ein normales Kriminalverbrechen vorgetäuscht hatten.
Die Tat selbst war Sekundensache.
Das Türschloß schnappte, Knabe kam ein paar Schritte in den dunklen Flur gelaufen und starb, ohne zu begreifen, was geschah.
Bevor Ahimaaz ins Treppenhaus trat, sah er sich gewissenhaft um. Es gab keine Spuren.
Plötzlich klappte unten die Tür, Stimmen wurden laut. Dann kam jemand die Treppe heraufgerannt. Das war nicht gut.
Ahimaaz eilte zurück in die Wohnung. Die Tür klappte lauter als nötig zu.
Er hatte höchstens noch fünfzehn Sekunden Zeit.
Er öffnete das Fenster am Ende des Flurs und sprang zurück hinter den Kleiderständer.
Buchstäblich im nächsten Augenblick kam ein Mann in die Wohnung gestürzt, angezogen wie ein Krämer. In seiner Hand steckte ein Revolver, Marke Herstal Agent - ein feines Maschinchen, Ahimaaz hatte früher selbst so eines in Benutzung gehabt. Der »Krämer« stoppte über dem reglosen Körper und fegte sodann erwartungsgemäß in die Zimmer hinein, kletterte endlich auch aus dem Fenster auf das Dach.
Im Treppenhaus war es still. Lautlos schlüpfte Ahimaaz aus der Wohnung.
Nun mußte er nur noch den Hoteldiener ins Jenseits befördern, und Punkt eins seines Planes konnte abgehakt werden.
13
Bevor er an die Ausführung des zweiten Punktes ging, war ein wenig Nachdenken angebracht.
Also lag Ahimaaz die Nacht über auf seinem Bett in der »Treue«, starrte zur Decke und überlegte.
Die Spurenbeseitigung war abgeschlossen, der Hoteldiener erledigt. Die Polizei mußte er nicht fürchten - mit der Verfolgung der »deutschen Spur« hatte die fürs erste genug zu tun.
Der rechte Augenblick, um das gestohlene Honorar aufzutreiben.
Es stand die Frage an, wie man jenen Ganoven mit Namen Kleiner Mischa ausfindig machte. Was wußte er über ihn?
Daß er der Anführer einer Bande war - denn anders hätte er nicht zuerst eine Rotte Schnüffler und später einen Mörder auf ihn ansetzen können.
Mehr war vorläufig nicht bekannt.
Nun zu dem Geldschrankknacker, der sich das Portefeuille angeeignet hatte. Was ließ sich über ihn sagen? Ein normaler Erwachsener kam durch keine Lüftungsklappe. Also ein Kind? Nein. Ein Kind hätte den Tresor wohl kaum so versiert aufbekommen, hierzu brauchte es Erfahrung. Und es war durchaus saubere Arbeit geleistet worden: keine eingeschlagenen Scheiben, keine Einbruchspuren. Der Dieb hatte den Tresor sogar hinter sich verschlossen. Demnach kein Kind, sondern ein kleinwüchsiger Mann. Warum also nicht der Kleine Mischa? Es lag nahe, daß er und der Einbrecher dieselbe Person waren. Das Portefeuille befand sich in seinen Händen.
Gesucht wurde also ein gewitztes und gewandtes Männlein mit Spitznamen Kleiner Mischa, das Tresore zu knacken verstand und eine Bande anführte, mit der nicht zu scherzen war.
Das war doch schon etwas.
Ein solch herausragender Spezialist konnte in der Chitrowka nicht unbekannt sein. Aber gerade darum würde er Mühe haben, an ihn heranzukommen. Sich als Spießgeselle auszugeben war zwecklos - dafür mußte man die Gepflogenheiten kennen, den Jargon, die Etikette. Aussichtsreicher war es, die »Scharbe« zu spielen. Eine, die sich der Dienste eines Geldschrankexperten zu bedienen wünschte.
Warum nicht zum Beispiel einen Kaufmannsgehilfen, der davon träumt, dem Tresor seines Chefs einen heimlichen Besuch abzustatten.
Am Sonntagmorgen, bevor er sich auf den Weg in die Chitrowka machte, konnte Ahimaaz der Versuchung nicht widerstehen und schaute an der Mjasnizkaja vorbei, um sich die Begräbnisprozession anzuschauen. Ein erhebender Anblick. Nie zuvor in den vielen Jahren seiner Laufbahn hatte eine seiner Aktionen einen derartigen Effekt erzielt.
Inmitten der schmerzbewegten, Kreuze schlagenden Menge stehend, fühlte Ahimaaz sich als Hauptakteur dieser grandiosen Aufführung, als ihr unsichtbares Zentrum.
Es war ein ungewöhnlich starkes, berauschendes Gefühl.
Gleich hinter dem Katafalk ritt gravitätisch ein General auf schwarzer Stute einher. Eitel und aufgeblasen. Überzeugt, die größte Nummer in diesem Spektakel zu sein. Dabei war er ebenso eine Marionette wie all die anderen. Der Strippenzieher stand bescheiden auf dem Trottoir, untergetaucht in einem Meer von Gesichtern.
Niemand kannte ihn, niemand gönnte ihm einen Blick. Doch das Bewußtsein seiner Einzigartigkeit verursachte einen Rausch, wie kein Wein ihn hätte erzeugen können. »Das ist Kirill, der Bruder des Zaren«, sagte jemand über den General zu Pferde.
»Was für ein Mann!«
Plötzlich wurde einer der Wachleute in der Absperrung zur Seite gestoßen, eine Frau im schwarzen Kopftuch kam aus der Menge gesprungen und stürzte auf den Katafalk zu.
»Warum gingst du von uns, unser aller Vater!« wehklagte sie und vergrub ihr Gesicht in den roten Samt.
Von dem gellenden Schrei scheute die Rappstute des Großfürsten, ging mit geblähten Nüstern auf die Hinterbeine.
Einer der Adjutanten wollte hinzuspringen, um das in Panik geratene Pferd an die Kandare zu nehmen, da wurde ihm durch Kirills dröhnende, herrische Stimme Einhalt geboten: »Zurück, Nepljuew! Misch dich nicht ein! Ich mach das selbst!«
Der Großfürst hielt sich mühelos im Sattel und hatte das Pferd im Handumdrehen besänftigt. Nervös schnaubend, tänzelte es ein wenig zur Seite, bevor es in die Ordnung des Zuges zurückkehrte. Das hysterische Klageweib wurde in die Menge zurückgeführt, womit der kleine Zwischenfall beendet war. Währenddessen hatte Ahimaaz' Stimmung sich gewandelt. Das Gefühl, der Puppenführer in einem großen Marionettentheater zu sein, war vorbei.
Jene Stimme, die dem Adjutanten Einhalt geboten hatte, kannte er gut. Einmal gehört, vergaß man sie nicht wieder.
Parbleu! Was für ein unerwartetes Zusammentreffen, Monsieur N.N.!
Nachdenklich sah Ahimaaz der majestätischen Gestalt in der Paradeuniform der Kavalleriegarde hinterher. Da war er, der Maestro, der die Fäden tatsächlich in der Hand hielt. Und er, Cavaliere Weide, Graf von Santa Croce in spe, war nur ein Requisit, nicht mehr. Auch recht.
Den ganzen restlichen Tag brachte er in der Chitrowka zu. Selbst hierher drang das Geläut der unzähligen Totenglocken, doch wer hier verkehrte, hatte mit der »sauberen« Stadt, die um irgendeinen General trauerte, nichts am Hut. Hier wuselte, wie in einem Tropfen Schmutzwasser unter dem Mikroskop, ein verborgenes Leben ganz eigener Art.
Ahimaaz, als Kaufmannsgehilfe verkleidet, war schon zweimal angefallen worden, und dreimal hatte man ihm heimlich in die Tasche zu greifen versucht, einmal sogar mit Erfolg: Ohne daß er es merkte, hatte ihm einer den Mantel aufgeschlitzt und die
Geldbörse hervorgezogen. Das eingebüßte Geld war nicht der Rede wert, doch die Fingerfertigkeit beeindruckte ihn.
Die Suche nach dem Geldschrankknacker wollte lange nicht vorankommen. Zumeist ergab sich mit den Leuten erst gar kein Gespräch, und wenn doch, so schlugen sie den Falschen vor: mal einen Kirjucha, mal einen, der sich Tiftler nannte, und mal einen gewissen Kolscha mit Beinamen Gymnasiast. Es war schon nach vier, als endlich einmal der Name des Kleinen Mischa fiel.