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Die Ereignisse überschlugen sich. Erst verhaftete der Polizist den Wirt, dann fand er seine Leute wieder, von denen einer, der Kirgise, gar nicht tot war.

Bemerkenswert war, daß der »Bucklige«, während er dem Asiaten mit einem Handtuch den geschundenen Kopf verband, japanisch mit ihm redete. Jetzt schlug es dreizehn: ein Japaner in der Chitrowka! Den rollenden Klang dieser Sprache hatte Ahimaaz im Ohr, seit er vor drei Jahren einen Auftrag in Hongkong auszuführen hatte. »Masa« nannte der Geheimpolizist seinen Japaner.

Jetzt, da der verkleidete Detektiv nicht mehr diesen schütteren Greisenton markierte, kam Ahimaaz die Stimme bekannt vor. Er hörte genauer hin - Herr Fandorin, keine Frage! Ein tüchtiger junger Mann, alles, was recht war! So einen traf man selten.

Und Ahimaaz entschied, daß das Risiko einzugehen nicht lohnte. Bei solchen Subjekten mußte man doppelt vorsichtig sein. Zumal der Detektiv nach wie vor auf der Hut war: Immer noch schössen seine Blicke in alle Richtungen, und der Herstal steckte griffbereit.

Zu dritt - Fandorin, der Japaner und der gefesselte Wirt - verließen sie nun die Schenke. Ahimaaz sah ihnen durch eines der staubigen Fensterchen nach. Das Portefeuille fest in Händen, begab sich der Detektiv auf die Suche nach einem Fuhrwerk, während der Japaner zur Bewachung des Arrestanten zurückblieb. Einmal nur versuchte der Wirt zu entkommen - schon hatte der kleine, kernige Mann den kräftigen Tataren mit wütendem Zischen und einer kurzen Bewegung zu Boden geworfen.

Dem Portefeuille mußte Ahimaaz wohl oder übel noch ein Weilchen hinterherlaufen. Irgendwann würde dieser Herr Fandorin schon einmal müde werden. Einstweilen konnte er nachsehen, ob sein Schuldner, der Kleine Mischa, wirklich tot war.

Eilig lief Ahimaaz durch den finsteren Gang und zog die angelehnte Tür auf. Eine Schlafkammer, funzliges Licht. Keiner schien da zu sein.

Er trat an das zerwühlte Bett, betastete es. Es war noch warm.

Da ertönte aus der Ecke ein leises Stöhnen. Ahimaaz fuhr herum und sah eine gekrümmte Gestalt. Der Kleine Mischa kauerte auf der Erde und hielt sich mit beiden Händen den Bauch. Er hob die feuchtglänzenden Augen, sein Mund war weinerlich verzerrt, und wieder drang dieses wimmernde, klägliche Stöhnen daraus hervor.

»Bruder, ich bin's, Mischa... Ich bin verwundet... Hilf mir... Wer bist du, Bruder?« Ahimaaz ließ sein spanisches Messer aufschnappen, beugte sich nach vorn und zog es dem Sitzenden über die Kehle. Damit Ruhe eintrat. Und außerdem war man nun quitt.

Im Laufschritt kehrte er zurück in den Schankraum und legte sich auf die Bank. Hufgetrappel auf der Straße, knarrende Räder. Fandorin kam hereingerannt, diesmal ohne das Portefeuille. Er verschwand in dem dunklen Gang - noch einer, der sich um den Kleinen Mischa Sorgen machte. Aber wo hatte er das Portefeuille? Dem Japaner überlassen?

Ahimaaz riß die Füße von der Bank.

Nein, zu spät.

Er streckte sich wieder aus. In ihm stieg Wut hoch. Doch er durfte der Erregung nicht nachgeben - so beging man nur Fehler.

Jetzt tauchte Fandorin wieder aus dem Kellerlabyrinth hervor: gehetzter Gesichtsausdruck, mit dem Herstal in alle Richtungen zielend.

Flüchtig ging sein Blick über den Blinden, ehe er nach draußen stürzte.

»Fahr schon! In die Malaja Nikitskaja, zur Gendarmerie!« drang sein Ruf von der Straße herein.

Ahimaaz riß sich das Häutchen vom zweiten Auge. Eile war angesagt.

14

Vor der Gendarmerieverwaltung fuhr Ahimaaz mit eleganter Kutsche vor, aus der er noch im Fahren absprang.

»Zwei von uns haben eben einen Arrestanten eingeliefert, wo sind die hin?« überfiel er den Wachhabenden.

Die naßforsche, anmaßende Arteines in Lumpen gehüllten Mannes mit herrischem Glanz in den Augen setzte den Gendarmen nicht in Erstaunen.

»Die sind flott hinauf zu Seiner Exzellenz. Vor nicht mal zwei Minuten. Und der Arrestant ist in der Wachstube, wird gerade eingetragen.«

»Der Arrestant ist mir egal!« fuhr der verkleidete Mann ihn an. »Ich brauche Fandorin. Bei Seiner Exzellenz ist er, sagst du?« »Jawohl. Die Treppe hoch, den Flur nach links.«

»Das weiß ich selber!«

Ahimaaz fegte durch das Vestibül die wenigen Stufen hinauf ins Hochparterre. Erst warf er einen Blick nach rechts - am entfernten Ende des Korridors schimmerte eine helle Tür, hinter der es klirrte. Ein Fechtsaal. Von dort drohte keine Gefahr.

Er ging nach links. Der breite Korridor war leer, nur hie und da kamen emsige Beamte in Uniform oder Zivil aus einem der Zimmer geschnürt, um gleich wieder in einer benachbarten Tür zu verschwinden.

Und nun hielt Ahimaaz vor freudiger Überraschung inne: Nach der langen Kette von Mißgeschicken und dummen Zufällen schien Fortuna ihm endlich gnädig werden zu wollen. Vor einer Tür mit der Aufschrift Empfangszimmer saß der Japaner und hielt das Portefeuille auf dem Schoß.

Vermutlich war Fandorin dabei, seinem Vorgesetzten die Ereignisse der Nacht zu rapportieren. Warum er wohl das Portefeuille nicht mit hineingenommen hatte? Vielleicht wollte er glänzen und hob sich den Knalleffekt für zuletzt auf. In der Nacht war allerhand passiert, der Detektiv würde mit seinem Rapport ein Weilchen zu tun haben, Ahimaaz hatte also ein paar Minuten Zeit.

Gemütlich hingehen. Einen Messerstich unter das Schlüsselbein setzen. Das Portefeuille schnappen und das Haus auf demselben Wege verlassen, auf dem er hereingekommen war. Eine Kleinigkeit.

Ahimaaz sah sich den Japaner genauer an. Der starrte konzentriert vor sich hin, hielt das Portefeuille mit beiden Händen fest und wirkte wie eine gespannte Feder. In Hongkong hatte Ahimaaz sich einen Eindruck verschafft, wie kunstvoll die Japaner den Kampf ohne Waffen auszuüben verstanden. Kein Meister im englischen Faustkampf oder im französischen Ringkampf kam dagegen an. Und den tatarischen Kneipenwirt, einen Hünen, hatte dieser kleine Japaner mit einem Ruck zu Boden geworfen. Wirklich eine Kleinigkeit?

Bloß kein Risiko. Das geringste Handgemenge, ein Poltern nur, und schon würde es einen Auflauf geben. Er brauchte eine Idee. Die Zeit lief.

Er machte kehrt und lief eilends in die Richtung, von wo er die Rapiere hatte klirren hören. Öffnete die Tür mit dem Schild Turnsaal für Offiziere und sah vor sich ein Dutzend Gestalten in Masken und weißen Fechtanzügen. Diese Musketiere hatten ihm noch gefehlt.

Ah, dort war die Tür zur Garderobe.

Er warf Lumpen und Bastschuhe von sich und nahm irgendeine Uniform vom Haken, nur bei den Stiefeln achtete er auf die Größe - das war wichtig. Schneller, schneller. Während er den Korridor in geschäftigem Trab zurücklief, fiel sein Blick auf ein Türschild: Poststelle.

Ein Beamter saß hinter dem Tresen und sortierte Umschläge.

»Ist Post für Hauptmann Pewzow da?«

Es war der erstbeste Name, der Ahimaaz in den Sinn kam.

»Nein.«

»Würden Sie bitte gründlich nachschauen!«

Achselzuckend steckte der Beamte die Nase in sein Kontorbuch, raschelte mit den Seiten.

Ahimaaz griff verstohlen nach einem Brief mit amtlichem Siegel, der auf dem Tresen lag, und schob ihn sich unter die Manschette.

»Lassen Sie, es eilt ja nicht. Ich komme später wieder.«

Mit festen Schritten näherte er sich nun dem Japaner, baute sich vor ihm auf und salutierte.

»Herr Masa?«

Der Japaner sprang vom Stuhl und tat einen tiefen Diener.

»Herr Fandorin schickt mich zu Ihnen. Fandorin, Sie verstehen?«

Eine noch tiefere Verbeugung war die Antwort. Der Japaner schien auf russisch nur Bahnhof zu verstehen. Um so besser!

»Hier ist die schriftliche Verfügung, Ihnen das Portefeuille abzunehmen.«