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Ahimaaz streckte den Brief nach vorn und wies zugleich auf das Portefeuille.

Der Japaner zögerte. Ahimaaz wartete, zählte die Sekunden. In der linken Hand hinter seinem Rücken steckte das Messer. Noch fünf Sekunden, und er mußte zustechen. Er durfte nicht länger warten.

Fünf, vier, drei, zwei...

Der Japaner verbeugte sich noch einmal und reichte ihm das Portefeuille. Den Brief nahm er mit beiden Händen entgegen und legte ihn sich gegen die Stirn. Anscheinend war ihm der Tod noch nicht beschieden.

Ahimaaz salutierte, machte auf dem Absatz kehrt und betrat das Empfangszimmer. Er konnte das Haus nicht durch den Korridor verlassen - das mußte dem Japaner merkwürdig vorkommen.

Das Empfangszimmer war geräumig. Geradeaus ging es in das Kabinett des Chefs - dort mußte man Fandorin vermuten. Links war ein Fenster. Rechts eine Tür mit dem Schild Geheimkontor.

Der Adjutant drückte sich vor der Tür zum Chefzimmer herum, was Ahimaaz nur recht war. Er tat eine beschwichtigende Geste und lenkte seine Schritte kurz entschlossen durch die rechte Tür. Wieder hatte er Glück - Fortuna lief zu großer Form auf. Denn hinter der Tür lag kein Kabinett, wo er aufs neue hätte improvisieren müssen, sondern nur ein kleiner Gang, von dem Fenster auf den Hof hinausgingen. Adieu, die Herren Gendarmen.

Ahimaaz Weide ging zum dritten und letzten Punkt seines Programms über.

Vor den Diensträumen im Amtssitz des Generalgouverneurs erschien ein schneidiger Gendarmeriehauptmann und fragte den Adlatus streng, wo der Hofrat Churtinski sein Kabinett habe. Ein pralles Portefeuille schwenkend, schritt er sodann in die gewiesene Richtung.

Churtinski empfing den »Eilkurier aus Petersburg« mit einem Lächeln gekünstelter Liebenswürdigkeit. Ahimaaz lächelte auch, doch ohne jegliche Heuchelei, er freute sich wirklich - lange genug hatte er auf diese Begegnung gewartet.

»Grüß Gott, Kanaille«, sagte er und blickte Herrn Nemo, Monsieur N.N.s bösem Knecht, in die glanzlosen grauen Augen. »Ich bin Klonow. Das ist Sobolews Portefeuille. Und das hier dein Tod.«

Bei diesen Worten ließ er sein Messer klicken.

Des Hofrats Gesicht wurde aschfahl. Seine Augen waren auf einmal tiefschwarz - die geweiteten Pupillen hatten die Iris ganz verschlungen.

»Ich will Ihnen alles erklären«, hauchte der Chef der Geheimkanzlei tonlos. »Bitte töten Sie mich nicht!«

»Wenn ich das wollte, lägest du längst mit aufgeschlitzter Kehle unterm Tisch. Ich will etwas anderes von dir!«

Ahimaaz hatte die Stimme erhoben, man sollte die eiskalte Wut heraushören.

»Was Sie belieben. Nur um Himmels willen nicht so laut!« zischte Churtinski.

Er steckte den Kopf zur Tür hinaus und befahl seinem Sekretär, niemanden vorzulassen. Dann wisperte er: »Hören Sie, ich kann Ihnen erklären, wieso ...«

»Erklär das dem Großfürsten, Judas!« schnitt Ahimaaz ihm das Wort ab. »Setz dich hin und schreibe! Los!« Er fuchtelte mit dem Messer so wild, daß Churtinski entsetzt zurückwich.

»Gut, gut. Was soll ich denn schreiben?«

»Die Wahrheit.«

Ahimaaz stellte sich hinter dem Rücken des zitternden Beamten auf.

Zaghaft schaute der Hofrat sich um - die Augen nicht mehr schwarz, sondern grau und matt wie zuvor. Anscheinend hatte Herr Nemo, das Schlitzohr, schon wieder eine Idee, wie er sich herauswinden konnte.

»Schreib! Ich, Pjotr Churtinski, bekenne, aus Habgier ein Verbrechen gegen meine Pflicht und Schuldigkeit sowie Verrat an demjenigen begangen zu haben, dem treu zu dienen und in seinem anspruchsvollen Werk allmöglichst behilflich zu sein ich geschworen habe. Gott ist mein Richter. Eurer Kaiserlichen Hoheit erkläre ich hiermit...«

Churtinski hatte eben das Wort »Richter« zu Papier gebracht, da brach ihm Ahimaaz mit einem Handkantenschlag die Halswirbel.

Er hängte den Leichnam an die Kordel, die vom Oberfenster herabhing. Befriedigt schaute er ihm in das staunende Gesicht. Ahimaaz Weide zum Narren zu halten war ein undankbares Geschäft.

Amen. Mehr gab es für ihn in Moskau nicht zu tun.

Vom Postamt sandte Ahimaaz, immer noch in Gendarmenuniform, ein Telegramm an die Adresse, unter der Monsieur N. N. im Notfall zu erreichen war. Wie in den Zeitungen stand, hatte Großfürst Kirill schon gestern die Rückreise nach Sankt Petersburg angetreten.

Das Telegramm war folgenden Inhalts:

Auftrag abgeschlossen, Honorar erhalten. Partner Nemo der Unlauterkeit überführt. Schwierigkeiten mit Herrn Fandorin von der Moskauer Filiale. Unterstützung Ihrerseits erbeten. Klonow.

Nach kurzem Zögern gab er seine Adresse in der »Treue« als Absender an. Ein Risiko war natürlich dabei, doch es hielt sich in Grenzen. Jetzt, wo er wußte, wer N. N. war, schien ihm ein doppeltes Spiel kaum mehr wahrscheinlich. Eine so hochrangige Person hatte andere Möglichkeiten.

Und Unterstützung benötigte er vom Großfürsten in der Tat. Die Operation war beendet. Einen Rattenschwanz polizeilicher Ermittlungen quer durch Europa hinter sich herzuziehen - das war das letzte, was der künftige Graf von Santa Croce gebrauchen konnte. Herr Fandorin war etwas über die Maßen scharfsinnig und schnell. Dem konnte ein bißchen Räson nicht schaden.

Als nächstes fuhr Ahimaaz zum Brjansker Bahnhof und kaufte sich eine Fahrkarte für den Pariser Zug. Morgen früh acht Uhr würde Ahimaaz Weide der Stadt den Rücken kehren, in der er seinen letzten Auftrag erfüllt hatte. Eine glänzende Laufbahn hatte ihren angemessenen Abschluß bekommen.

Er bekam plötzlich Lust, sich selbst ein Geschenk zu machen. Ein freier Mann, noch dazu jenseits beruflicher Pflichten, durfte sich ein paar Schwächen leisten.

Er schrieb einen Brief.

Sei morgen früh um sechs in der »Herberge zur Treue«, Chochlowski Pereulok. Zimmer sieben, Eingang vom Hof. Klopfzeichen: zweimal, dreimal, zweimal. Möchte dir vor meiner Abreise ade sagen. Nikolai.

Er gab den Brief am Bahnhof auf, bei der städtischen Post. Frau Tolle persönlich.

Hotel Anglija, Petrowka, Ecke Stoleschnikow hatte er als Adresse auf den Umschlag geschrieben.

Es war kein Problem. Sämtliche Spuren waren getilgt. Selbst mochte er sich im »Anglija« freilich nicht sehen lassen - möglicherweise wurde Wanda ja noch beschattet. Im übrigen würde Monsieur N.N. dafür sorgen, daß die Beschattung baldigst aufgehoben und die Ermittlungen eingestellt wurden.

Er wollte Wanda ein Abschiedsgeschenk machen: jene leidigen fünfzigtausend, die ihr noch fehlten, um sich frei zu fühlen und zu leben, wie es ihr gefiel.

Und vielleicht... sollte er ein neues Rendezvous verabreden? In einem neuen, freien Leben?

Jene Stimme, die sich vor einiger Zeit in Ahimaaz' linker Brusthälfte eingenistet hatte und bisher mit geschäftlichen Erwägungen abzuwürgen gewesen war, schien nun vollends über die Stränge zu schlagen.

»Wozu Abschied?« flüsterte sie. »Graf von Santa Croce, das ist etwas anderes als Ahimaaz Weide. Es gibt keinen Grund für Seine Hoheit, einsam zu bleiben.«

Der Stimme wurde umgehend das Wort verboten. Dennoch fuhr Ahimaaz noch einmal zum Bahnhofsschalter, gab seine Fahrkarte zurück und buchte ein Abteil für zwei Personen. Auf die hundertzwanzig Rubel kam es nicht an. Ein Abteil für sich allein zu haben war ohnehin angenehmer.

»Ha-ha!« kommentierte die Stimme.

Morgen früh, wenn wir uns sehen, werde ich es entscheiden! sagte sich Ahimaaz. Entweder sie kriegt die fünfzigtausend, oder sie fährt mit.

Und plötzlich erinnerte er sich: Das hatte es schon einmal gegeben. Vor zwanzigjahren, mit Jewgenija. Nur hatte er damals, als die Entscheidung anstand, kein Pferd für sie dabei. Diesmal war das Pferd gesattelt.

Den Rest des Tages konnte Ahimaaz an nichts anderes denken. Abends lag er schlaflos in seinem Bett, was er nicht von sich kannte.