Am Ende verwirrten sich die Gedanken und wurden von einer Flut zusammenhangloser, flüchtiger Bilder beiseite geschoben. Wanda stand vor ihm, ihr Gesicht begann zu flimmern und sich auf seltsame Weise zu verwandeln, bis auf einmal das von Jewgenija daraus geworden war. Merkwürdig: Er hatte immer
angenommen, daß deren Gesichtszüge seit langem aus seinem Gedächtnis ausradiert waren. Zärtlich schaute Wanda-Jewgenija ihn an und sprach:
»Was für klare Augen du hast, Lia! Wie Wasser so klar.«
Von einem leisen Klopfen an die Tür fuhr Ahimaaz, noch halb im
Schlaf, ruckartig auf und zerrte den Revolver unterm Kopfkissen hervor. Vor dem Fenster graute der Morgen.
Erneutes Klopfen - in schneller Folge, ohne Pausen dazwischen.
Lautlos auftretend, schlich Ahimaaz die drei Stufen zur Tür hinunter.
»Herr Klonow!« ertönte eine Stimme. »Eildepesche für Sie! Von Monsieur N.N.!« Ahimaaz öffnete, die Hand mit dem Revolver hinter dem Rücken.
Vor ihm stand ein hochgewachsener Mann im Regenmantel. Das Gesicht unter dem länglichen Schirm seines Tschakos war nicht zu erkennen, nur die martialisch gezwirbelten Schnurrbartenden schauten hervor. Nachdem er den Brief übergeben hatte, trat der Bote wortlos zurück und verschwand im fahlen Morgengrauen.
Herr Weide, die Ermittlungen sind eingestellt, doch gibt es eine kleine Komplikation. Kollegienassessor Fandorin hat, eigenmächtig handelnd, Ihren Aufenthaltsort in Erfahrung gebracht und beabsichtigt, Sie in Haft zu nehmen. Der Moskauer Polizeipräsident bat uns um Genehmigung dieser Aktion. Wir befahlen, die Aktion abzublasen, den Kollegienassessor hiervon jedoch nicht in Kenntnis zu setzen. Fandorin wird heute morgen sechs Uhr bei Ihnen erscheinen. Er kommt allein, nicht ahnend, daß eine polizeiliche Rückendeckung unterbleibt. Der Mann gefährdet mit seinem Vorgehen den Erfolg unserer Aktion. Verfahren Sie mit ihm nach Belieben.
Ich danke für die gut ausgeführte Arbeit. N. N.
Ahimaaz' Gefühle waren gespalten. Er fühlte sich gehoben und niedergeschmettert zugleich.
Das Hochgefühl ließ sich leicht verstehen. Fandorin zu töten war ein hübscher Schlußstrich unter seine Karriere. Der Sache dienend, eine alte Rechnung begleichend. Der letzte Schliff.
Sich mit dem anderen Gefühl auszukennen war schwieriger.
Woher hatte Fandorin die Adresse? Doch wohl nicht von N.N. Und außerdem war der Zeitpunkt - sechs Uhr - für Wanda bestimmt gewesen. Hatte sie ihn verraten? Das änderte alles.
Er sah auf die Uhr. Halb fünf. Zur Vorbereitung blieb mehr als genug Zeit. Es war kein besonderes Wagnis, alle Umstände sprachen für Ahimaaz, doch Herr Fandorin war ein ernst zu nehmender Widersacher, Leichtsinn unangebracht.
Und ein besonderes Moment kam auch diesmal hinzu. Jemanden umzulegen, der nicht mit einem Angriff rechnete, hätte keine Mühe bereitet. Doch mußte Fandorin vorher beichten, woher er die Adresse wußte.
Wenn sie nur nicht von Wanda kam.
Nichts war Ahimaaz jetzt wichtiger als das.
Um halb sechs bezog er seinen Posten am Fenster, hinter der Gardine.
Um drei Minuten nach sechs betrat ein Mann in affigem cremefarbenem Jackett und modisch enganliegenden Hosen den Hof, der von mildem Morgenlicht überflutet war. Diesmal hatte Ahimaaz Gelegenheit, die Gesichtszüge seines alten Bekannten in allen Einzelheiten zu studieren. Ein energisches, kluges Gesicht, es gefiel ihm.
Dies war ein würdiger Gegner. Nur mit seinen Verbündeten hatte er wenig Glück.
Vor der Tür stehend, atmete Fandorin tief ein. Blähte komisch die Backen, gab die Luft in kleinen Stößen wieder von sich. Was war das denn - eine Freiübung?
Jetzt hob er die Hand und klopfte leise.
Erst zweimal, dann dreimal, dann zweimal.
DRITTER TEIL
SCHWARZ UND WEISS DAS SKYTHISCHE TOR
oder:
VORLETZTES KAPITEL, in welchem sich Fandorin in ein Nichts verwandelt
Fandorin horchte: Es blieb still. Er klopfte noch einmal. Kein Laut. Vorsichtig stieß er gegen die Tür, die unerwartet nachgab und mit einem bösen Knarren aufging. War die Falle etwa leer?
Die Hand mit dem Revolver ausgestreckt, sprang er hinein, drei Stufen hinauf, und stand nun in einem quadratischen Zimmer mit niedriger Decke.
Aus dem hellen Morgenlicht kommend, empfand er den Raum als stockdunkel. Rechterhand das dunkelgraue Viereck des Fensters mit vorgezogener Gardine, weiter hinten an der Wand die eiserne Bettstelle, ein Schrank und ein Stuhl.
Was war das dort auf dem Bett? Unter der Decke lag jemand.
Die Augen des Detektivs hatten sich ausreichend an die Düsternis gewöhnt, um einen Arm zu erkennen, genauer gesagt, einen Ärmel, der leblos unter der Decke hervorhing. Eine Hand im Handschuh. Handfläche nach oben. Auf dem Fußboden lag ein Colt, daneben breitete sich eine dunkle kleine Pfütze aus.
Das hatte er nicht erwartet. Mit einem Stich der Enttäuschung im Herzen steckte Fandorin den überflüssigen Herstal ein, war mit ein paar Schritten beim Bett und riß die Decke zurück.
Reglos stand Ahimaaz hinter dem dichten Vorhang neben dem Fenster. Davon, daß der Detektiv das verabredete Klopfzeichen benutzt hatte, war ihm in der Seele schal. Also doch Wanda ...
Das Zimmer war so präpariert, daß Fandorins Blick nicht erst umherschweifte, sondern sogleich abgelenkt wurde; dabei sollte der Detektiv Ahimaaz den Rücken zudrehen und die Waffe herunternehmen.
Die Rechnung ging in allen drei Punkten auf.
»Sehr schön!« sagte Ahimaaz halblaut. »Jetzt die Hände in den Nacken. Und wagen Sie ja nicht, sich umdrehen, Herr Fandorin. Ich schieße sofort.«
Arger war das erste, was in Fandorin hochstieg, da er unter der Decke die primitiv hergerichtete Kleiderpuppe liegen sah und hinter sich die ruhige, selbstsichere Stimme hörte. Böse hereingefallen!
Doch gleich darauf wurde der Arger von Bestürzung verdrängt. Wieso war Klonow-Pewzow auf der Hut gewesen? Hatte er am Fenster gelauert und gesehen, daß an Wandas Statt ein anderer kam? Doch er hatte ihn beim Namen angesprochen. Das deutete darauf hin, daß er mit ihm gerechnet hatte. Wie konnte das sein? Hatte Wanda ihn doch noch gewarnt? Aber wieso war er dann noch hier und nicht über alle Berge?
Man mußte vermuten, daß das Objekt in die Besuchspläne des »Herrn Fandorin«, nicht aber in die Polizeiaktion eingeweiht war. Seltsam.
Im übrigen war es nicht der rechte Moment, Hypothesen aufzustellen. Was sollte er machen? Einen Hechtsprung zur Seite? Auf einen Mann zu schießen, der eine Ausbildung bei den Ninja-Mönchen genossen hatte, war immerhin weit schwieriger, als der falsche Gendarmeriehauptmann sich einbilden mochte.
Doch wenn einmal Schüsse fielen, war die Polizei im nächsten Moment zur Stelle, eröffnete das Feuer, und dann war jede Chance vertan, das Objekt lebend zu ergreifen. Fandorin legte die Hände in den Nacken. Ruhig, im selben Ton wie sein Gegner, fragte er: »Und was nun?«
»Das Jackett ausziehen!« befahl Ahimaaz. »In die Mitte des Zimmers werfen.«
Das Klirren im Jackett war unüberhörbar - da schien außer dem Herstal noch mehr in den Taschen zu stecken.
Hinten am Gürtel hatte der Detektiv ein Halfter mit einer winzigen Pistole hängen. »Die Deringer abschnallen. Unter das Bett damit. Noch weiter. Jetzt nach vorn beugen - schön langsam. Das linke Hosenbein aufkrempeln. Höher. Jetzt das rechte.«
Na also: Am linken Knöchel steckte, Heft nach unten, ein Stilett. Herr Fandorin war gut ausgerüstet. Vorsorgliche Menschen waren Ahimaaz sympathisch.
»Jetzt können Sie sich umdrehen.«