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Unter seiner Manschette steckte der Pfeil, mit dem sich auf diese Entfernung kaum etwas anfangen ließ. Trotzdem hob Fandorin den Arm, bereit, ihn ruckartig anzuwinkeln. Derweil nahm auch der Weißäugige gelassen Maß, zielte ihm auf die Brust.

Plötzlich hatte der Detektiv einen komischen Gedankenblitz: Die Duellszene aus »Eugen Onegin« stand ihm vor Augen. Gleich würde der Weißäugige anfangen zu singen: »Nun stürze ich, vom Pfeil getroffen ...«

Zwei Kugeln in die Brust. Die dritte aus nächster Nähe in den Kopf.

Niemand würde auf die Schüsse hin gerannt kommen. Einen Schutzmann konnte man in dieser Gegend lange suchen. Es gab keinen Grund zur Eile.

Da nahm Ahimaaz aus dem Augenwinkel eine schnelle Bewegung wahr. Ein kompakter Schatten kam von der Mauer her auf ihn zugewischt.

Ahimaaz fuhr jäh herum und blickte in ein wild grimassierendes schlitzäugiges Gesicht unter einem seltsamen, teppichartigen Kopftuch, in einen aufgesperrten Rachen, aus dem ein markerschütternder Schrei hervorbrach. Der Japaner!

Sein Finger drückte auf den Abzug.

Das Weiblein, eben noch schüchtern gegen die Wand gepreßt, stieß plötzlich den Kampfschrei der Yakuza von Yokohama aus und griff den Weißäugigen nach allen Regeln des Jiu-jitsu an.

Der fuhr behende herum und drückte ab, das Weib aber schien geradezu unter der Kugel hinwegzutauchen und schlug dem Schützen mit einem überaus kundigen Mawashigeri aus der vierten Position die Füße weg. Dabei rutschte ihr das alberne Kopftuch auf die Schultern, ein schwarzer Schopf kam zum Vorschein, der mit einem weißen Handtuch umwickelt war.

Masa! Wo kam der auf einmal her? Er hatte ihm nachspioniert, der Gauner! Darum also hatte er sich so schnell damit abgefunden, seinen Herrn allein ziehen zu lassen!

Und das Kopftuch war kein Kopftuch, sondern der Badvorleger aus dem »Dusseaux«! Und das Kittelkleid - ein Sesselschoner!

Die Früchte seiner etwas verzögerten Auffassungsgabe waren im Moment allerdings gar

nicht gefragt. Fandorin stürzte vorwärts, den Arm mit dem Pfeil immer noch aufgestellt, wobei er sich zu schießen hütete, um Masa nicht zu treffen.

Soeben hieb der Japaner seinem Gegner den Handrücken auf den Unterarm - der Bayard flog zur Seite, schlug auf das Pflaster und ballerte in den blauen Himmel hinein.

Doch eine Sekunde später knallte dem Japaner eine eiserne Faust mit solcher Wucht gegen die Schläfe, daß er in sich zusammensackte und auf die Nase fiel.

Der Weißäugige warf einen gehetzten Blick erst auf den heranspringenden Fandorin, dann auf den entfernt liegenden Revolver. Gelenkig sprang er auf die Füße und rannte zurück in den Hinterhof.

An seinen Bayard kam er nicht heran. Der Kontrahent war schnell und im Nahkampf geübt. Bis er ihm beikam, war der Japaner wieder zu sich gekommen, und mit zwei solchen Meistern wurde er allein nicht fertig.

Also zurück ins Zimmer. Dort lag der geladene Colt vor dem Bett.

Seinen Lauf nur wenig abbremsend, griff sich Fandorin den Revolver vom Boden. Es dauerte vielleicht eine halbe Sekunde, doch in dieser Zeit war der Weißäugige um die Ecke verschwunden. Und schon wieder kam Fandorin ein unpassender Gedanke: Erst laufen wir zusammen in die eine Richtung, dann zusammen in die andere. Wie Kinder beim Völkerballspiel.

Fünf Schüsse waren abgegeben, nur eine Patrone steckte noch in der Trommel. Fandorin durfte nicht danebenschießen.

Er jagte um die Ecke und sah den Weißäugigen nach der Türklinke von Nummer sieben greifen. Ohne zu zielen, schoß der Detektiv seinen Pfeil ab. Zwecklos. Das Objekt war schon in der Tür verschwunden.

Kurz hinter der Tür kam Ahimaaz jäh ins Stolpern, sein Bein knickte ein und wollte nicht mehr gehorchen.

Fassungslos schaute er hin: Aus seinem Knöchel ragte seitlich eine kleine metallene Spindel. Eine Sinnestäuschung?

Er überwand den heftigen Schmerz, kämpfte sich die drei Stufen hinauf, kroch auf allen vieren über den Boden - dorthin, wo er den schwarzen Schemen seines Colts liegen sah. In dem Moment, da sich seine Finger um den geriffelten Griff schlossen, krachte hinter ihm ein Schuß.

Getroffen!

Die dunkle Gestalt schlug lang hin. Den sich spreizenden Fingern entglitt der schwarze Revolver.

In zwei Sätzen hatte Fandorin das Zimmer durchquert und die Waffe vom Boden aufgehoben. Er spannte den Hahn und wich sicherheitshalber zurück.

Der Weißäugige lag mit dem Gesicht nach unten. In der Mitte seines Rückens zeichnete sich ein nasser Fleck ab und wurde zusehends größer.

Hinter Fandorin - ein Tappen. Der Detektiv wandte sich nicht um. Masas Schritt kannte er. »Dreh ihn um«, sagte er auf japanisch. »Aber sei vorsichtig, der Mann ist gefährlich.«

In den vierzig Jahren seines Lebens war Ahimaaz kein einziges Mal verwundet gewesen, worauf er sehr stolz war. Zugleich hatte er sich immer davor gefürchtet, daß diese Glückssträhne eines Tages ihr Ende haben mußte. Den Tod fürchtete er nicht, den Schmerz und die Hilflosigkeit einer Verletzung hingegen sehr. Was, wenn die Qual so überhandnahm, daß er es nicht mehr aushielt? Wenn er die Kontrolle verlor über Körper und Geist, so wie er es viele Male bei anderen mitangesehen hatte?

Schmerzen hatte er nicht. Überhaupt keine. Nur sein Körper gehorchte ihm nicht mehr.

Das Rückgrat ist durchschossen, dachte er. Der Graf von Santa Croce würde sein Eiland nie betreten. Ein nüchterner Gedanke, der kein Bedauern hervorrief.

Dann ging mit ihm eine Veränderung vor. Eben hatten seine Augen noch die staubigen Dielenbretter gesehen. Jetzt sahen sie plötzlich eine graue, in den Ecken mit Spinnweben verhangene Zimmerdecke.

Ahimaaz wandte den Blick zur anderen Seite. Über ihm stand Fandorin mit dem Revolver in der Hand.

Wie komisch ein Mensch von unten aussieht. Es ist das Bild, das die Hunde, die Würmer, die Schaben von uns haben.

»Hören Sie mich?« fragte der Detektiv.

»Ja«, erwiderte Ahimaaz und wunderte sich, wie rein und klangvoll seine Stimme war.

Er verlor unablässig Blut - das spürte er genau. Wenn es nicht bald gestillt wurde, war sein Ende nah. Das war gut. Er mußte dafür sorgen, daß das Bluten nicht aufhörte. Am besten war es, wenn er redete.

Der am Boden liegende Mann sah Fandorin scharf an, so als stünde in dessen Gesicht etwas sehr Wichtiges zu lesen. Dann begann er zu sprechen. Er sprach in knappen, unmißverständlichen Sätzen.

»Ich schlage einen Handel vor. Ich rette Ihnen das Leben, Sie erfüllen mir eine Bitte.«

Vermutlich halluzinierte der Weißäugige schon.

»Was denn für eine Bitte?« fragte Fandorin verwundert. »Und mein Leben retten ... Wie meinen Sie das?«

»Die Bitte nachher. Passen Sie auf. Ihr Schicksal ist besiegelt. Ich bin der einzige, der Sie noch retten kann. Ihre eigenen Vorgesetzten werden Sie hochgehen lassen. Sie sind schon abgeschrieben. Ich habe es nicht geschafft, Sie zu töten. Die anderen werden es tun.« »Reden Sie keinen Blödsinn!« rief Fandorin, doch dabei krampfte sich sein Magen seltsam zusammen. Wo war die Polizei abgeblieben? Wo Karatschenzew?

»Machen wir es so«, sagte der Verwundete und leckte sich die bleichen Lippen. »Ich sage Ihnen, was Sie tun müssen. Wenn Sie mir glauben, erfüllen Sie meine Bitte. Wenn nicht, dann nicht. Abgemacht?«

Fandorin nickte. Wie gebannt blickte er auf den Mann, der seiner Vergangenheit entstiegen schien.

»Meine Bitte ist die folgende. Unter dem Bett liegt ein Portefeuille. Sie wissen, welches. Keiner wird sich mehr dafür interessieren. Es ist allen nur im Wege. Das Portefeuille gehört Ihnen. Darin liegt ein Umschlag. Mit fünfzigtausend Rubeln. Den Umschlag schicken Sie bitte Wanda. Werden Sie das tun?«

»Natürlich nicht!« rief Fandorin entrüstet. »Alles Geld geht zurück an den Staat. Ich bin kein Dieb. Ich bin Beamter und im Adelsstand.«