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Ahimaaz versuchte zu verfolgen, was mit seinem Körper geschah. Anscheinend blieb ihm weniger Zeit, als er vermutet hatte. Das Sprechen fiel ihm immer schwerer. Er mußte sich beeilen.

»Sie sind ein Niemand und ein Nichts. Sie sind ein toter Mann.«

Die Umrisse des Detektivs begannen vor seinen Augen zu verschwimmen, Ahimaaz sprach schneller.

»Sobolew ist von einem geheimen Schwurgericht zum Tode verurteilt worden. Im Namen des Zaren. Jetzt wissen Sie die ganze Wahrheit. Dafür wird man Sie töten.

Im Interesse des Staates. In dem Portefeuille liegen ein paar Pässe. Fahrkarten für den Zug nach Paris. Er geht um acht. Sie schaffen es noch. Andernfalls... ist Ihnen der Tod gewiß.«

Vor seinen Augen wurde es dunkel. Ahimaaz riß sich zusammen und vertrieb den Schleier.

Denk schneller, Fandorin! drängte er im stillen. Du bist klug, und ich habe keine Zeit mehr.

Der Weißäugige sprach die Wahrheit.

Als Erast Fandorin sich dessen ganz bewußt wurde, schwankte er.

Wenn dem so war, dann war er um alles gebracht: den Beruf, die Ehre, den Sinn des Lebens. Dann war er erledigt. Karatschenzew, dieser Schuft, hatte ihn verraten, in den sicheren Tod geschickt. Nein, nicht Karatschenzew - der Staat war es, das Imperium, das Vaterland.

Daß er noch am Leben war, hatte er einem Wunder zu verdanken. Masa, um es genau zu sagen.

Fandorin blickte seinen Diener an. Der hatte die Hand an seine lädierte Schläfe gelegt und rollte mit den Augen.

Der Ärmste. Kein Kopf, nicht einmal einer aus Eisen, hielt auf Dauer eine derart schlechte Behandlung aus. Ach, Masa, Masa, was machen wir nun? Du hast dein Leben an den Falschen gehängt.

»Die Bitte. Versprechen Sie es mir«, flüsterte der Sterbende kaum noch hörbar.

»Wird gemacht«, brummte Fandorin widerwillig.

Der Weißäugige lächelte. Dann schloß er die Augen.

Ahimaaz lächelte. Dann schloß er die Augen.

Alles war gut. Das Leben war gut, das Ende auch. Stirb jetzt! befahl er sich. Und er starb.

LETZTES KAPITEL,

in welchem sich alles zum Besten fügt

Die Bahnhofsglocke schlug das zweite Mal, die »Ericsson«-Lokomotive spuckte ungeduldig Rauch - ganz so, als könnte sie es nicht erwarten, loszuspringen und auf blitzenden Gleisen der Sonne hinterherzujagen. Der Transeuropa-Expreß Moskau-Warschau-Berlin-Paris stand zur Abfahrt bereit.

In einem Schlafwagenabteil 1. Klasse (Bronze, Samt und Mahagoni) saß ein mißmutiger junger Mann in zerknittertem, an den Ellbogen aufgerissenem cremefarbenem Jackett, schaute geistesabwesend aus dem Fenster und kaute auf seiner Zigarre herum. Auch er ließ ein bißchen Rauch aufsteigen - doch im Unterschied zur Lokomotive ohne jeglichen Enthusiasmus.

Da ist man nun erst sechsundzwanzig, und das Leben ist vorbei! dachte der Reisende. Ganze vier Tagen war es her, daß er voller Hoffnung und Tatendrang hier angekommen war. Und schon sah er sich gezwungen, seine geliebte Heimatstadt wieder zu verlassen, unwiderruflich und für immer. Verfemt, verfolgt, mit aufgekündigtem Dienstverhältnis. Pflicht und Vaterland im Stich lassend. Nein, das nun gerade nicht - das Vaterland war es ja, das seinen treuen Diener verraten hatte! Eine schöne Staatsräson war das, die einen redlichen Angestellten erst in ein sinnloses Rädchen verwandelte und ihm dann gar nach dem Leben trachtete. Lest Konfuzius, ihr Herren Thronwächter! Bei ihm steht zu lesen: Ein vornehmer Mann kann niemandes Werkzeug sein.

Was nun? Man würde ihn verleumden, als Dieb hinstellen und in ganz Europa nach ihm fahnden lassen.

Als Dieb übrigens vielleicht doch nicht - das Portefeuille zu erwähnen würden sie sich hüten.

Und auch die Fahndung ließen sie wohl lieber sein. Nichts von alledem sollte ruchbar werden.

Eher würden sie stille Jagd auf ihn machen, bis sie ihn früher oder später fanden und totschlugen. Wer in Begleitung eines japanischen Dieners unterwegs war, konnte nicht schwer aufzutreiben sein. Aber wo hätte er Masa lassen sollen? Allein in Europa ging der sofort unter.

Apropos, wo steckte er überhaupt?

Fandorin zog seine Breguet hervor. Bis zur Abfahrt blieben noch zwei Minuten.

Sie waren rechtzeitig auf den Bahnhof gekommen, der Kollegienassessor (Ex-Kollegienassessor, besser gesagt) hatte sogar noch Zeit gehabt, einen an Frau Tolle, Hotel »Anglija« adressierten Brief aufzugeben, doch viertel vor acht, als sie schon im Abteil saßen, hatte Masa Protest eingelegt: Er sei hungrig, verkündete er. Hühnereier, eklige Kuhbutter und rohes, nach Rauch schmeckendes Schweinefleisch im Speisewagen zu essen weigere er sich jedoch entschieden. Und er begab sich auf die Suche nach frischen, dampfenden Kringeln.

Inzwischen schlug die Glocke zum dritten Mal, und die Lokomotive stieß einen fröhlichen, saftigen Pfiff aus.

Er hatte sich doch nicht etwa verlaufen, dieser plattfüßige Dickwanst? Beunruhigt steckte Fandorin den Kopf aus dem Fenster.

Aber da kam er schon den Perron entlanggetrippelt, mit einer Papiertüte von enormen Ausmaßen im Arm. Sein weißleuchtender Kopfverband hatte sich verdoppelt: Zur 217

Beule am Hinterkopf, nicht ganz abgeheilt, war nun noch der Bluterguß an der Schläfe gekommen. Aber wen hatte er da bei sich?

Fandorin schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne.

Neben Masa schritt ein großer, hagerer Mann mit üppigen Koteletten, in einer Livree.

Frol Wedischtschew, seines Zeichens persönlicher Kammerdiener des Fürsten Dolgorukoi! Was suchte der denn hier? Wie unpassend, o weh!

Und Wedischtschew hatte ihn schon bemerkt, er winkte.

»Herr Fandorin, Euer Hochwohlgeboren! Euch suche ich eben!«

Schnell zog Fandorin den Kopf zurück, wofür er sich im nächsten Moment schämte. Es war zu dumm. Und es brachte nichts. Außerdem interessierte ihn, was dieser Auftritt zu bedeuten hatte.

Er klemmte sich das Portefeuille unter den Arm und begab sich hinaus auf den Perron. »Uff, gerade noch geschafft...«

Wedischtschew keuchte und rieb sich die dampfende Glatze mit einem bunten Taschentuch.

»Kommt schnell, gnädiger Herr, Seine Durchlaucht warten schon.«

»Wie haben Sie mich denn g-g-... gefunden?«

Dabei sah der junge Mann konsterniert zu, wie der Waggon vor ihm langsam anfuhr.

Egal. Eine Flucht mit der Eisenbahn schien ohnehin nicht die glücklichste Idee zu sein. Die Behörden kannten die Route und konnten ihn an der erstbesten Station aus dem Zug holen.

Er mußte sich auf anderem Wege aus Moskau davonstehlen.

»Zu Seiner Durchlaucht kann ich nicht mitkommen, mein lieber Frol. Gewisser Umstände wegen muß ich den Dienst leider quittieren. Ich ... Ich muß dringend verreisen. Ich werde das dem Fürsten b-b-... brieflich erläutern.«

Genau! An Dolgorukoi mußte er schreiben, ihm alles klarlegen! Damit wenigstens einer die wahren Hintergründe dieser schlimmen und bedauerlichen Geschichte erfuhr.

»Wozu denn das schöne Papier verderben?« fragte Wedischtschew naiv und zuckte die Achseln. »Uber Eure gewissen Umstände sind Seine Durchlaucht vorzüglich unterrichtet. Wenn wir da sind, könnt Ihr den Fall ja noch einmal persönlich rekapitulieren. Wie das zuging mit diesem Meuchler, in der Hölle soll er schmoren. Und wie der Polizeipräsident Euch reingelegt hat. Der Judas!«

Fandorin verschlug es die Sprache.

»Aber ... Wie kann denn ... Woher wissen Sie das alles?«

»Man hat so seine Quellen«, erwiderte der Kammerdiener nebulös. »Von Eurer Morgenmission bekamen wir gottlob noch rechtzeitig Wind. Ich hatte ja auch meinen Mann vor Ort, um zu sehen, was passiert. Habt Ihr ihn denn nicht erkannt? Hockte mit seiner Schirmmütze am Tor und spielte den Besoffenen. Dabei ist er dem Alkohol mehr als abhold, nicht mal zu Ostern wird er schwach. Deswegen ist er mein Mann. Er hat gehört, wie Ihr den Kutscher zum Brjansker Bahnhof zu fahren befahlt, und hat es mir zugetragen. Joi, was bin ich Euch hinterhergesaust! Und hab Euch mit Gottes Hilfe noch eingekriegt. Gut, daß ich Euer Schlitzauge am Büfett entdeckt habe, sonst hätte ich womöglich noch durch alle Wagen gemußt. Ich bin nicht mehr zwanzig wie Ihr, gnädiger Herr!«