Fidelma konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Das ist dir erst jetzt aufgefallen?«
Colgu mußte lächeln. »Nein, aber er wird mit zunehmendem Alter immer exzentrischer. Um die Wahrheit zu sagen, Schwester, bin ich der Meinung, daß hinter der Tragödie eine großangelegte Verschwörung gegen dich persönlich oder unser ganzes Königshaus steckt. Warum das so ist und wer die Fäden zieht, kann ich zur Zeit noch nicht sagen. Ich glaube, ihr teilt meine Ansicht - daß Alchu weder zufällig entführt wurde von jemandem, der sich selbst ein Kind wünscht, wie Dathal meint, noch daß es hier um eine Lösegeldforderung geht.«
Nachdenklich blickte Fidelma ihren Bruder an. »Ich dachte, daß ich allein mit dieser Ansicht dastehe.«
Eadulf preßte verärgert die Lippen aufeinander. »Ihr werdet euch erinnern, daß ich genau das Brehon Dathal erklärt habe ...«
»Die Sache ist die«, warf Colgu ein, »ihr habt euch beide Feinde gemacht, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Königreiches. Es gibt gewiß viele, die sich an euch rächen wollen.«
»Dessen sind wir uns alle wohl bewußt«, stellte Eadulf ruhig fest. »Ich würde sagen, daß jeder, der mit der Durchsetzung des Rechtes in diesem Land zu tun hat, immer mit der Mißgunst anderer rechnen muß. Man kann nicht ein so hohes Ansehen, wie Fidelma es hat, genießen, ohne sich Feinde zu machen - oftmals in gehobenen Positionen.«
»Das ist richtig«, stimmte ihm der König zu. »Aber die Gefahr kann auch aus einer ganz anderen Richtung kommen, nicht nur von Feinden, die man sich bei der Durchsetzung von Recht und Gesetz gemacht hat. Ich meine Feinde, die einen persönlichen Groll gegen einen hegen. Diese dürft ihr nicht vergessen.«
»Meinst du jene Leute, die meine Verbindung mit einem Ausländer nicht gutheißen?« fragte Fidelma.
Colgu blickte Eadulf mitfühlend an und zuckte mit den Schultern.
»Versteh das bitte nicht falsch, Eadulf, aber wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Fidelma stammt aus dem Königshaus der Eoghanacht, sie ist die Tochter eines Königs und die Schwester eines Königs. Weißt du eigentlich, welche Bedeutung das für uns hat, Eadulf? Nicht nur für unsere Familie, sondern für unsere gesamte Kultur?«
Eadulf schob ein wenig den Kiefer vor. Seine Stimme war kalt, als er sagte: »In meinem Heimatland, Colgu, da gilt die Abstammung der sächsischen Könige als heilig. Jeder König der Angeln und der Sachsen führt seine Abstammung auf einen der sieben Söhne Wotans zurück. Viele Angeln und Sachsen glauben immer noch an die Göttlichkeit Wotans, dem Oberhaupt der Rabensippe, dem Allvater unseres Volkes. Schon in grauen Vorzeiten hat mein Volk Wotan angebetet. Der christliche Glaube hingegen ist erst vor ungefähr einer Generation angenommen worden, in manchen Gegenden vor noch kürzerer Zeit.«
Colgu lächelte über den streitlustigen Stolz in Ea-dulfs Stimme.
»Dann wird es dir gefallen, wenn ich dir erkläre, daß die Eoghanacht ihren Stammbaum bis in die alle-rersten Anfänge der Zeit zurückführen können. Unsere Barden, die Hüter des Wortes, bejubeln mich als den Repräsentanten der sechsundneunzigsten Generation, die aus der Lende Adams hervorging, der achtzigsten Generation seit Gaedheal Glas, Sohn von Niul, der die Kinder der Gälen aus dem Turm zu Babel geführt hat. Ich bin Repräsentant der neunundfünfzigsten Generation seit Eibhear Fionn, dem Sohn von Milidh, der die Kinder der Gälen in dieses Land gebracht hat.«
»Worauf willst du hinaus, Bruder?« fragte Fidelma ruhig.
»Es geht darum, daß es viele gibt, und in unserer eigenen Familie vermutlich sehr viele, die, wie du sagst, etwas dagegen haben, daß du die ben charrthach eines Sachsen bist - der dazu noch von geringerem Rang ist als du.« Als Fidelma und Eadulf zugleich zu reden ansetzten, hob er die Hand. »Ich weise nur darauf hin, meine Meinung ist das nicht. Ihr solltet dem ins Auge sehen. Viele waren sicher empört über die Geburt eines Halbsachsen in unserer Familie.«
»Das brauchst du uns nicht zu sagen«, erwiderte Eadulf rasch. »Das vergesse ich bestimmt nicht und darf es auch gar nicht.«
Fidelma blickte ihn an, sie war überrascht über seinen Tonfall. Eadulf hatte ganz ruhig gesprochen, es hatte auch nicht verbittert geklungen, aber sie spürte den Zorn, der sich in ihm aufgestaut hatte. Sie wollte schon etwas sagen, doch dann ließ sie es. Ihr Gesicht glich einer Maske.
»Bruder, ich nehme an, daß du das nur ganz im allgemeinen gesagt hast? Oder hast du etwa einen besonderen Verdacht?«
Colgu betrachtete sie einen Moment lang ausdruckslos, dann schüttelte er den Kopf.
»Ich hege keinen speziellen Verdacht und kann auch niemand Bestimmtes beschuldigen. Ich glaube, daß sich jeder in unserer Burg der Etikette entsprechend geziemend verhält, aber die wahren Gefühle werden oftmals verborgen. Es gibt bestimmt Leute, die glauben, daß die Tochter der Eoghanacht die Mutter eines Sohnes von Éireann und nicht von Sachsen sein sollte.«
»Alchu hat . wird . zwischen zwei Kulturen und Ländern wählen können«, erwiderte Fidelma. »Er allein entscheidet über seine Zukunft. Das werden wir nicht für ihn tun. Und dieses Schicksal hat Alchu nicht allein. Oswy, der König von Northumbria, hat ein Kind mit Fina, Tochter des alten Hochkönigs Colman Rimid, gezeugt. Er heißt Aldfrith, und ich erfuhr, daß er ein vielversprechender junger Gelehrter in Beannchar ist. Er ist sowohl in der Kultur seiner Mutter als auch in der seines Vaters zu Hause.«
Der König lächelte, wenn auch ein wenig traurig. »Du meinst es gut. Aber ich betone noch einmal, daß dies nicht meine Ansicht ist, sondern daß ich nur auf Dinge hinweise, deren ihr euch bewußt sein solltet. Und da gibt es noch etwas.«
»Noch etwas?« wiederholte Eadulf etwas zynisch. »Ich dachte, wir hätten genug, worüber wir uns den Kopf zerbrechen müssen.«
»Es wird euch nicht entgangen sein, daß abgesehen von eurer Abstammung auch euer Leben als Nonne und Mönch eine Rolle spielt. Ihr habt euch entschlossen, eure Fähigkeiten in erster Linie in den Dienst des neuen Glaubens zu stellen. Es ist gar nicht so lange her, daß alle unsere Gelehrten, ob nun Richter, Anwälte, Barden oder Ärzte, den Druiden unterstanden. Wir akzeptieren es, daß der neue Glaube die Druiden in den fünf Königreichen fast ganz verdrängt hat. Jene, die dem neuen Glauben anhängen, können das tun, ohne benachteiligt zu werden. Wir akzeptieren es, daß Priester, Mönche und Nonnen des neuen Glaubens, wie zuvor die Druiden, heiraten und Kinder haben können. Es existieren Klöster, in denen sowohl Mönche als auch Nonnen leben. Du, Fidelma, bist in dem conhospitae von Kildare ausgebildet worden, einem gemischten Haus, das von der Äbtissin Brigid und von Bischof Conlaed gegründet wurde.«
Fidelma runzelte die Stirn. »Was willst du damit sagen, Colgu? Bist du etwa von dieser neuen Bewegung bekehrt worden, die meint, daß jene, die Christus dienen, weder das andere Geschlecht heiraten noch mit ihm verkehren dürfen? Nicht einmal der Bischof von Rom hat zugestimmt, daß diese Haltung ein Glaubensdogma sein sollte. Es wäre völlig gegen die Natur, Beziehungen zwischen Frauen und Männern zu verbieten. Es sind nur kleine, hier und da verstreute Gruppierungen von Asketen, die so denken. Unter Priestern, Mönchen und Nonnen hat es schon immer Leute gegeben, die glauben, daß sie Gott besonders viel Treue und Loyalität beweisen, wenn sie alle menschlichen Sehnsüchte verdrängen.«
»Laß dir versichern, daß ich nicht von ihnen bekehrt wurde, Fidelma. Aber in den fünf Königreichen gibt es eine ganze Reihe von Menschen, die ihrer Ansicht sind«, verteidigte sich Colgu. »Viele nehmen heute an, daß sie ihrem Glauben am besten dienen können, wenn sie den Zölibat einhalten ...«
»Meine guten Wünsche werden sie begleiten, auch wenn ich das für unnatürlich halte. Aber es ist eine Sache, nach seinen eigenen Ansichten zu leben, und eine andere, sie anderen als Dogma und einzig mögliche Form aufzuzwingen, Gott zu dienen«, erwiderte Fidelma.