»Was war mit diesen Pilgern?« fragte Fidelma und beugte sich interessiert vor.
»Da gibt es nur wenig zu sagen, Lady. Wir sind auf der Straße an ihnen vorbeigeritten, sie waren zu Fuß. Wir trafen hier ein, und bald stießen sie zu uns. Es waren ungefähr sechs. Solche Pilger habe ich schon öfter gesehen auf dem Weg zu heiligen Stätten, wo sie Linderung für ihre Gebrechen erbitten. Sie waren nicht voneinander zu unterscheiden. Alle trugen Umhänge, und ihre Köpfe waren unter Kapuzen verborgen. Wir konnten weder erkennen, wie alt sie waren, noch ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Aber Kinder waren nicht darunter, ich meine keine Babys.«
Fidelma blickte ihn prüfend an.
»Wieso grenzt du deine Aussage auf Babys ein?«
Der Mann zögerte einen Moment.
»Ich dachte, einer der Pilger hätte auch ein Kind sein können, ein kleinwüchsiges, mißgestaltetes armes Geschöpf.«
Fidelma zog eine Augenbraue hoch. »Ein mißgestaltetes Kind?« fragte sie streng.
Der Krieger zuckte mit den Schultern. Er überlegte, wie er am besten beschreiben konnte, was er gesehen hatte.
»Der Pilger war nicht unbedingt als Kind zu bezeichnen. Sein Körper wirkte sehr stämmig. Er ging mir ungefähr bis hier ...« Der großgewachsene Mann zeigte auf seine Taille.
Capa sah ihn abschätzig an. »Vermutlich hast du die Reisenden nicht gefragt, wer sie sind, oder? Du weißt doch, daß wir nach dem verwachsenen Kind suchen, das die Nachricht nach Cashel gebracht hat. Diesen Pilger hättest du unbedingt festhalten müssen.«
»Man hat mir nichts von einem verwachsenen Kind gesagt«, erwiderte der Krieger betroffen. »Ich sollte nur nach Alchu, dem Baby, Ausschau halten. Als wir auf die Pilger zugingen, um sie zu befragen, holte der Kleinwüchsige ein Glöckchen hervor und läutete damit. Es war eine Lepraglocke. Mir war bereits aufgefallen, daß sich die anderen Pilger von dem Aussätzigen fernhielten. Daher näherten wir uns ihnen nicht weiter, sondern ließen sie nach Imleach ziehen.«
Fidelma atmete langsam aus. Einzig daran war zu erkennen, wie aufgebracht sie war. Der Mann sah sie mit gequälter Miene an.
»Es ist wahr, Lady, wir sollten nicht nach einem verwachsenen Kind suchen - nur nach einem Baby«, sagte er.
»Wer hat das angeordnet, Krieger?« fragte Capa gereizt.
»Lord Finguine.«
»So, nun weißt du es jedenfalls, auch wenn ich befürchte, daß es zu spät ist«, antwortete Capa. »Ein verwachsenes Kind hat die Botschaft in die Burg von Cashel gebracht, die Sarait in den Tod lockte. Sei von nun an wachsam.«
Der Krieger nickte niedergeschlagen.
Von den westlichen Bergen her erscholl ein dumpfes Donnergrollen. Fidelma riß sich von ihren Gedanken los.
»Wir sollten zum Brunnen von Ara reiten, ehe das Gewitter losbricht.«
Capa erreichte als erster der kleinen Gruppe das andere Ufer.
Bedrückt sah ihnen der Krieger von der Brücke nach. Dann entspannten sich seine Züge. Er zuckte verächtlich mit den Schultern. Capa war verrückt, wenn er erwartete, daß seine Männer sich nah an einen Leprakranken heranwagten.
Hier und da fielen schon große Regentropfen, und das Donnergrollen kam immer näher. Die Gruppe gelangte nun auf eine kleine Anhöhe, und von da aus führte sie ihr Weg zu einem anderen breiten Fluß. An dessen beiden Uferseiten lag die Siedlung, die sich um den Brunnen von Ara gebildet hatte und durch viele seichte und gut passierbare Untiefen verbunden war. Das Wasser reichte den Pferden kaum bis an die Fesseln. Vor einer Schenke genau an einer Furt hielten sie an.
Ein junger Bursche, kaum älter als vierzehn Jahre, öffnete die Tür zur Gaststube und trat heraus, um sie zu begrüßen.
»Willkommen, ihr Reisenden. Seid willkommen bei .«
Da entdeckte er plötzlich Fidelma und Eadulf, und sein Mund verzog sich zu einem breiten kindlichen Lächeln.
»Sei gegrüßt, Adag.« Fidelma lächelte ebenfalls, als sie sich von ihrem Pferd schwang. »Alles in Ordnung?«
»Ja, Lady. Willkommen. Bruder Eadulf, herzlich willkommen. Wir freuen uns über euren Besuch.«
Nun lächelte auch Eadulf und fuhr mit seiner Hand durch Adags zersaustes Haar.
»Schön, dich wiederzusehen, Adag. Seit letztem Mal bist du sehr gewachsen.«
Der Junge richtete sich auf. Er glich nur noch wenig dem Elfjährigen, den Eadulf einst am Ufer getroffen hatte und der versucht hatte, eine zappelnde Forelle an seiner Angel aus dem Wasser zu ziehen.
»Wie geht es deinem Großvater, Adag?« fragte Fidelma, als ihr der Junge die Zügel ihres Pferdes abnahm. Rasch griff er noch die Zügel der anderen Pferde.
»Er ist drin, Lady. Er wird sich freuen, euch zu sehen. Ich werde die Pferde in den Stall führen. Mein Großvater wird sich um euch kümmern. Werdet ihr eine Weile bleiben? Ich kann dann eure Pferde versorgen.«
Fidelma schaute zum Himmel auf, den gerade ein Blitz erhellte. Sie blinzelte und zählte leise. Ehe der Donner folgte, hatte sie bis vier gezählt.
»Das Gewitter ist schon sehr nah«, erklärte sie resigniert. »Wir werden es wohl hier abwarten müssen. Wie lange wird das deiner Meinung nach dauern, Adag?«
Der Junge schaute mit ernstem Blick zum Himmel empor.
»Ungefähr in einer Stunde ist es vorbei. Genügend Zeit für eine Schüssel Suppe und einen Becher vom corma meines Großvaters. Ich werde derweil die Pferde füttern und trockenreiben.«
Capa hatte die ganze Unterhaltung über geschwiegen, doch nun sagte er: »Meine Männer können sich selbst um ihre Pferde kümmern .«
Fidelma hob eine Hand. »Adag kann das übernehmen, Capa. Er ist sehr tüchtig. Kommt mit hinein, er wird schon damit fertig.«
Und sie trat ins Innere der Gaststube. Dort war es dunkel, ein eigenartiges tanzendes Licht kam vom Feuer her. Im ganzen Raum duftete es nach Hammelsuppe, die in einem großen Topf über dem Feuer vor sich hin köchelte.
Ein alter Mann stellte gerade Trinkbecher auf den Tisch. Als er die Neuankömmlinge erkannte, verschlug es ihm beinahe die Sprache.
»Hallo, Aona. Wie geht es dir?«
»Besser, da ich dich nun sehe, Lady. Und unseren lieben sächsischen Freund, Bruder Eadulf. Seit eurem letzten Besuch hier war das Leben recht ruhig.«
»Gut, ich bete dafür, daß es auch weiterhin so bleiben möge, Aona«, erwiderte Fidelma. »Friede ist besser als Streit, nicht wahr?«
Capa fühlte sich ein wenig ausgeschlossen. Geringschätzig beäugte er die Vertrautheit zwischen Fidelma und dem Gastwirt.
»Los, Wirt, hol uns zu essen und zu trinken«, sagte er laut und bestimmt.
Fidelma drehte sich zu ihm um, und nur Eadulf sah, daß kurzzeitig Verärgerung in ihrem Gesicht aufblitzte.
»Aona, ich möchte dir Capa vorstellen. Capa hat nun den Posten, den du einst innehattest.«
Capa begriff nicht recht, er errötete und fühlte sich von Fidelma getadelt. Er sah den Gastwirt eindringlich an, da erst ging ihm auf, was Fidelma gesagt hatte.
»Bist du etwa der Aona, der zu Zeiten meines Groß-vaters Befehlshaber der königlichen Leibgarde von Cashel war?« erkundigte er sich überrascht. »Jener Aona, von dessen Taten und Schlachten noch heute gesprochen wird?«
Caol und Gorman, die hinter Capa standen, blickten den alten Gastwirt voller Ehrfurcht und Respekt an. Beide waren noch jung und voller Stolz, den goldenen Halsring der Leibgarde des Königs von Cashel zu tragen. An den unzähligen Abenden, an denen sich die Krieger um ein wärmendes Feuer scharten, hörten sie viel von den Taten und der Tapferkeit der großen Männer, die vor ihnen zu Ruhm gekommen waren und denen sie nacheifern wollten.
Der Alte amüsierte sich über ihre Blicke.
»Ich bin Aona, einst Befehlshaber der königlichen Leibgarde«, entgegnete er. »Doch du sprichst ja über mich, als sei ich schon ein Greis, mein junger Krieger.« Seine grauen Augen funkelten wie Stahl, als er Capa ansah. »Du bist also jetzt Befehlshaber in Cashel, ja? Nun, das Kommando ist nicht ausschließlich eine Sache der Muskeln, junger Freund. Wollen wir hoffen, daß dein Verstand genau so beweglich ist wie dein Körper.«