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Eadulf lächelte beklommen. »Ich glaube, ich habe inzwischen genug Erfahrung im Umgang mit Nichtchristen, ich hege also keine großen Bedenken. Ob nun Christen oder nicht, nur wegen eines anderen Glaubens sind die Menschen nicht gleich alle anders. Als ich in Rom war, sah ich ein Stück, das hieß Asina-ria. Dessen Quintessenz bestand darin, daß Stolz und Habsucht Ursache für alle menschlichen Übel sind, nicht die Religion. Die Menschen verhalten sich wie Wölfe zueinander.«

»Lupus est homo homini«, murmelte Fidelma bitter. »Doch der Autor des Stücks, Titus Plautus, hat da etwas Wichtiges verwechselt - die Wölfe greifen sich nicht gegenseitig an. Nur Menschen tun das ohne jeden Grund.« Dann erhob sie sich auf einmal. »Wir würden nun gern den Anführer der Pilgergruppe sprechen, Bruder Madagan.«

Offenbar waren die Pilger gerade beim Gebet in der Kapelle, in der sich die Reliquien des heiligen Ailbe befanden. Der Verwalter schlug seinen Gästen daher vor, in seiner Zelle zu warten, während er Bruder Bui-te holte.

»Sie beten in der Kapelle? Hast du keine Bedenken, wenn ein Leprakranker sich frei in deiner Abtei bewegt?« fragte Eadulf verwundert.

Bruder Madagan sah ihn erstaunt an.

»Wie kommst du darauf, daß einer der Pilger Lepra hat?«

»In der Pilgergruppe soll sich einer befinden, der klein wie ein Kind aussieht und eine Lepraglocke läutet. Ist er etwa nicht dabei?« fragte Fidelma.

Bruder Madagan schüttelte den Kopf. »Ein Leprakranker ist nicht unter ihnen.«

Nachdenklich blickte Fidelma zu Eadulf. Dann zuckte sie die Schultern und wandte sich wieder an Bruder Madagan.

»Hören wir, was Bruder Buite zu sagen hat.«

Fidelma und Eadulf saßen eine Weile schweigend da. Fidelma lehnte sich bequem auf ihrem Stuhl zurück. Nur das rhythmische Klopfen ihrer Finger verriet ihre Unruhe. Seit langer Zeit waren sie nun zum erstenmal allein.

»Irgendwann müssen wir miteinander reden«, sagte Eadulf schließlich.

Fidelma schloß kurz die Augen. Eadulf erwartete einen Wutausbruch.

»Worüber?« fragte sie sehr ruhig.

»Über uns. Es gibt so viel Unausgesprochenes.«

Sie drehte sich zu ihm. Er war überrascht, ein trauriges Lächeln wahrzunehmen. »Du hast recht, Eadulf. Seit unserer Rückkehr aus Rath Raithlen ist viel unausgesprochen geblieben. Das ist mein Fehler. Aber hab noch ein wenig Geduld. Jetzt brauche ich deine Stärke. Wir unterhalten uns bald. Das verspreche ich.«

Eadulf blickte ins Feuer und schwieg.

Fidelma war ihm dankbar für sein Feingefühl. Sie verspürte ohnehin Schuld, nicht nur weil ihr Kind entführt worden war, sondern weil sie in den letzten Monaten ihre Beziehung zu Eadulf in Frage gestellt hatte. Seit der Geburt des kleinen Alchu war sie fortwährend in gedrückter Stimmung gewesen. Sie hatte sich viel Zeit mit der Entscheidung gelassen, Eadulfs ben charrthach, seine Ehefrau für ein Jahr und einen Tag, zu werden.

Lange hatte Fidelma versucht, sich gegen Eadulfs Zuneigung zu wehren. Seit ihrer unglücklichen Beziehung mit dem Krieger Cian hatte sie geglaubt, sie würde sich nie wieder dem Leid und den Qualen der Liebe aussetzen. Doch als sie dann zum erstenmal auf der Synode von Whitby Eadulf begegnet war, war ein Feuer in ihr entfacht worden, obwohl er Sachse war und für die Lehren Roms eintrat. Sie hatte sich weismachen wollen, daß sie keine voreiligen Entscheidungen hinsichtlich einer dauerhaften Ehe mit Eadulf treffen wollte, weil sie sich so sehr um sein Wohl sorgte.

Außerdem war nach den Gesetzen der fünf König-reiche eine Ehe mit Eadulf eine Verbindung von Personen unterschiedlichen Standes. Fidelma war von königlichem Geblüt, Eadulf hätte nicht die gleichen Eigentumsrechte wie seine Frau, auch deswegen war sie einer Ehe ausgewichen und hatte sich für eine Ehe auf Probe entschieden. Während dieser Zeit war sie schwanger geworden und hatte Alchu geboren. Hatte sie Alchu nicht zur Welt bringen wollen? Sie hatte viel über ihre verlorene Freiheit nachgedacht und begonnen, Eadulf abzulehnen.

Der Gedanke, nun für immer ein Leben in Cashel zu führen, war ihr ein Greuel. Als ihr Bruder sie dann gebeten hatte, in Rath Raithlen die mysteriösen Morde an drei jungen Mädchen aufzuklären, war ihr dieser Auftrag wie ein Geschenk des Himmels erschienen. Nachdem sie diesen Fall gemeinsam mit Eadulf erfolgreich gelöst hatte, hatte sie sich auf dem Rückweg nach Cashel gefragt, ob sie die Ehe auf Probe nicht jetzt beenden sollte, da die Frist ohnehin bald abgelaufen war. Dann hatte sie von der Entführung ihres Sohnes erfahren.

Wieder übermannte sie der Schmerz, sie mußte tief Luft holen.

»Was hast du?« fragte Eadulf besorgt.

Sie blickte ihn an und lächelte angestrengt.

»Mir ist gerade etwas eingefallen, was Publilius Syrus einmal geschrieben hat ...«

Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Eadulf sicher eine sarkastische Bemerkung darüber gemacht, denn Fidelma hatte immer einen moralischen Grundsatz des ehemaligen Sklaven aus Rom zur Hand. Sie schien sein ganzes Werk auswendig zu kennen. Heute sagte er nur: »Ja?«

»Unglücklich sind diejenigen, die sich selbst nicht vergeben können«, antwortete sie traurig.

Eadulf wollte schon etwas darauf erwidern, als die Tür aufging und Bruder Madagan erschien. Er trat beiseite und winkte einen mittelgroßen Mann mit einem langen braunen wollenen Gewand hinein, der auffällig hinkte.

Der linke Arm des Mannes hing an der Seite steif herab. Er war nicht alt, aber das Leben hatte Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. In seinen langen dunklen Haaren gab es weiße Strähnen, und seine dunklen glühenden Augen schienen ein Spiegel der Schrecken zu sein, die sie gesehen hatten.

»Dies ist Bruder Buite aus Magh Ghlas«, verkündete der Verwalter.

Bruder Buite hinkte auf die Gäste zu und verneigte sich kurz vor Fidelma.

»Womit kann ich dir dienen, Lady?«

Fidelma blickte ihm einen Moment in die Augen. »Kennst du mich?«

Bruder Buite senkte den Kopf. »Ich habe bei Cnoc Äine in der Armee deines Bruders gekämpft. Dort habe ich .«

Unwillkürlich fuhr er mit seiner rechten Hand zu seinem nutzlos herabhängenden linken Arm.

»Ich kenne dich, Lady, und ich weiß von deinem Kummer. Wenn es irgend etwas gibt, was ich tun kann, um deine Schmerzen zu lindern, so mußt du es nur sagen.«

»Das ist sehr großzügig von dir, Bruder Buite«, erwiderte Fidelma ernst. »Darf ich dir Bruder Eadulf vorstellen. Setz dich, wir würden uns gern mit dir unterhalten.«

Der Pilger humpelte zu einem Stuhl und nahm umständlich darauf Platz. Bruder Madagan setzte sich ebenfalls.

»Wie ich hörte, warst du mit deinen Gefährten in Cashel, als meine Amme ermordet und mein Baby entführt wurde. Erzähl mir von deinen Begleitern.«

Bruder Buite errötete ein wenig.

»Ich kann nur von mir reden. Meine Begleiter mußt du schon selbst befragen. Es genügt, wenn ich sage, daß wir uns alle auf der Straße unweit von Cashel eingefunden hatten. Da ich die Kapelle des heiligen Ailbe kannte, erbot ich mich, die Gruppe zur Abtei zu führen. Wir übernachteten in dem Gasthof unterhalb der Burg deines Bruders. Am folgenden Morgen erfuhr ich von dem Tod der Amme und dem Verschwinden deines Kindes. Doch da wir ganz offensichtlich kein Kind bei uns hatten, gestattete uns der edle Prinz Fin-guine, unsere Reise fortzusetzen.«

»Aha. Und Finguine kam am nächsten Morgen zum Gasthof, um euch zu befragen?«

»So war es, Lady.«

»Und dann hast du deine Gruppe hierhergeführt?«

»Ja.«

»Aber wohl nicht alle, oder?«

Bruder Buite war erstaunt.

»Warst du nicht mit einem Leprakranken unterwegs? Wie wir hörten, bist du hier aber ohne ihn eingetroffen.«

»Ach«, sagte der Pilger leise. »Ein Aussätziger hat uns tatsächlich ein Stück begleitet.«

»Wo hat er sich von euch getrennt?«