Schon nach wenigen Minuten war Eadulf klargeworden, daß der Fürst ein recht geschwätziger Bursche war und nur um des Redens willen redete. Er erzählte unendlich viele Geschichten, ob man sie nun hören wollte oder nicht.
Fiachrae reichte Eadulf einen Becher Met.
»Warst du schon einmal in Cnoc Loinge, mein sächsischer Freund? Ich erinnere mich nicht an dich, gewiß, es ist schon lange Zeit her, daß ich meine Cousine getroffen habe.«
Eadulf schüttelte den Kopf und kostete von dem süßen Honigmet.
»Ich war schon einmal in Imleach, weiter jedoch nicht«, erwiderte er.
»Ah, davon habe ich gehört. Das war, als Bruder Mochta und die Reliquien des heiligen Ailbe verschwunden waren.«
Bestätigend senkte Eadulf den Kopf.
»Nun, du wirst feststellen, daß meine kleine Burg hier eine lange Geschichte hat. An diesem Ort haben die Vorfahren der Eoghanacht-Könige erklärt, alle Forderungen des Hochkönigs zurückzuweisen, sofern sie ungerecht waren, und unabhängig zu sein.«
Eadulf war klar, daß ihm der rundliche Fürst nun jene alte Legende auftischen wollte, und so hielt er es für besser, nicht ungesellig zu sein und sich der eitlen Redseligkeit des Fürsten zu beugen, um Fidelmas Aufgabe nicht zu erschweren. Fiachrae hatte es sich auf seinem Stuhl bequem gemacht, hielt einen Becher Met in der Hand und lächelte gedankenvoll.
»Wenige Monate nachdem Eoghan, Vorfahre aller Eoghanacht, in einer Schlacht gefallen war, gebar seine Frau, Lady Moncha, einen Sohn. Dieser Sohn hieß Fiachrae Muilleathan, und er wurde zu Recht >König der Schlachten< genannt.«
»Ich wußte, daß Fiachrae, also auch dein Name, >König der Schlachten< bedeutet, aber heißt nicht Mu-illeathan >der Breitschädlige<?« fragte Eadulf.
Dem Fürsten gefiel offenbar nicht, daß man seine Erzählung unterbrach.
»Ein Astrologe hatte prophezeit, wenn das Kind an einem bestimmten Tag zur Welt käme, würde es zum ersten Narren der fünf Königreiche von Éireann werden. Einen Tag später geboren und unter einer günstigeren Sternenkonstellation würde es allerdings zum mächtigsten König des Landes werden. Als Moncha schließlich Wehen bekam und jener Tag mit der vielversprechenderen Prophezeiung noch nicht angebrochen war, verließ sie die Burg von Cnoc Rafoan und ging ans Ufer des nahe gelegenen Flusses Suir. Sie setzte sich auf einen flachen Stein, um die Geburt des Kindes hinauszuzögern. So verging ein Tag, und am nächsten Tag brachte sie das Kind zur Welt, das später ein mächtiger König werden würde. Doch wegen der großen Anstrengungen, die es kostete, die Wehen hinauszuzögern, starb Moncha. Als das Kind den Mutterleib bereits zu verlassen suchte, wurde es von ihr mit ganzer Kraft gegen den Stein gepreßt, so daß seine Stirn ganz flach blieb. Daher trug es den Beinamen Muilleathan oder >der Breitschädlige<.«
Der Fürst berichtete so voller Ernst von seinem Vorfahren, daß Eadulf sich zusammennehmen mußte, das Gesicht nicht zu verziehen.
»Wie ging es weiter?«
»Fiachrae, oder Fiacha, denn sein Volk benutzte voller Liebe diese Kurzform, wurde ein großer König.
Er herrschte über dieses Land zu der Zeit, als der große Corma mac Art Hochkönig war. Das war vor vier Jahrhunderten. Die Ui Néill von der Sippe der Dal Riada wiesen Cormac eine Zeitlang aus Tara aus, doch Fiachrae kam ihm zu Hilfe und kämpfte für ihn, so daß Cormac die Regentschaft wieder zurückerlangte. Eine Weile lief zwischen den beiden Königen alles gut, doch Cormac hatte schlechte Ratgeber. Ein ehrgeiziger Verwalter redete ihm ein, daß das Königreich von Muman, da es das größte der fünf Königreiche war, doppelt soviel an Tribut an den Hochkönig zu zahlen hätte wie die anderen Königreiche. Doch diese Erhöhung der Abgaben wollte Fiachrae nicht hinnehmen.
Angestachelt vom Ehrgeiz seines schlechten Ratgebers, machte Cormac etwas sehr Unkluges. Er marschierte mit einer großen Armee nach Muman ein. Fi-achraes Armee hatte sich genau hier zusammengefunden, auf diesem Berg, der die Form eines Schiffes hat, und genau hier wurden Fiachraes Männer von Cor-macs Armee umzingelt. Wieder war Cormac schlecht beraten. Seine Generäle meinten, er solle die Armee von Fiachrae verbrennen, und so ließ er alle Bäume und Büsche anzünden. Doch Fiachraes Druide Mag Ruith beschwor einen starken Sturm herauf, so daß der Rauch Cormacs Kriegern entgegenblies, die darin zu ersticken drohten und schließlich flohen. Da befahl Fi-achrae seinen Kriegern, Cormacs Armee zu verfolgen und zu bestrafen. Cormac mußte schließlich eine Entschädigung an Fiachrae zahlen.«
Eadulf versuchte ein Gähnen zu unterdrücken.
»Und von da an lebten alle glücklich und zufrieden?«
Der Fürst schüttelte den Kopf.
»In diesem Land ist das Leben nicht so wie in einem Märchen, Sachse«, erwiderte er. Eadulfs sarkastischer Tonfall war ihm entgangen. »Cormac sann auf Rache.«
Eadulf begann sich zu fragen, warum Fidelma so lange fortblieb. Dann sagte er: »Und was geschah darauf?«
»Cormac hatte ein Pflegekind, das hieß Connla, es war der Sohn von Tadhg, dem Lord von Éile. Connla hatte es schon immer auf den Thron von Muman abgesehen, er war Fiachraes Cousin und hatte sich in Tara die Lepra zugezogen ...«
Eadulf zuckte zusammen, als er an den Grund für seinen Aufenthalt in Cnoc Loinge erinnert wurde. »Die Lepra?«
»Ja. Und Cormac hatte sich für seine Rache etwas Listiges ausgedacht. Er redete Connla ein, daß er von seiner Krankheit geheilt werden würde, wenn er im Blut eines Königs badete, der mit ihm verwandt war. So zog Connla nach Süden zu Fiachraes Burg in Cnoc Rafoan, wo man ihn willkommen hieß. Connla wartete den rechten Augenblick ab. Eines Tages wollte Fiachrae im Fluß Suir bei Äth Aiseal schwimmen gehen. Im richtigen Moment stieß Connla ihm sein Schwert in den Rücken .«
»Und war von der Lepra geheilt?« Eadulf lächelte.
Der Fürst runzelte die Stirn, denn schon wieder hatte man ihn unterbrochen.
»Natürlich nicht«, erwiderte er schroff. »Fiachraes Wachleute nahmen Connla gefangen, doch noch im Sterben bewies König Fiachrae so großen Edelmut, daß er Connla das Leben schenkte und ihn in ein Haus für Aussätzige im Land der Corco Duibhne schickte. Dann starb der König und sein Tanist Ailill Flann Bec übernahm die Krone. Von ihm führt die edle Stammbaumlinie bis zu unserem jetzigen König Colgu ... Und natürlich auch bis zu deiner Frau Fidelma.«
Auf einmal lächelte der Fürst und blickte Eadulf aus dem Augenwinkel an. »Doch ich habe erfahren, daß Fidelma nun Mutter eines Sohnes ist. Wie geht es dem Kind? Heißt der Junge nicht Alchu?«
Eadulf berichtete Fiachrae nun von dem Grund ihres Besuches. Der Fürst war plötzlich nicht mehr so redselig.
»Aber ... das ist ja schrecklich. Das hättet ihr mir sofort mitteilen sollen«, sagte er. »Das ist eine Katastrophe! Eine Tragödie! Wirklich furchtbar!«
Eadulf hatte den Eindruck, daß seine Worte wenig aufrichtig waren. Er wollte dem Fürsten schon erklären, daß er kaum die Gelegenheit gehabt hatte, zu Wort zu kommen. Als er ihm dann von dem aussätzigen Zwerg berichtete, fiel ihm wieder ein, daß Fidelma wohl so gut wie nichts über die Gründe ihres Besuchs hier hatte verraten wollen.
»Nun«, sagte Fiachrae nach einer Weile und stellte seinen Becher ab, »mir ist weder von Reisenden noch von einem Leprakranken etwas zu Ohren gekommen.«
»Fidelma dachte, daß er sich vielleicht den Zwergen angeschlossen hat, die jetzt hier sind ...«
Sofort schüttelte Fiachrae den Kopf. »Diese Kleinwüchsigen sind crossan. Ich glaube kaum, daß sich ihnen ein Leprakranker oder ein Mönch anschließen würde.«
»Crossan?«
»Crossan oder druth - Spielmänner oder Wanderschauspieler. Sie führen irgendein Stück auf. Das ist öffentlich bekanntgemacht worden, und die Leute strömen in Scharen herbei. Man hat mir gesagt, daß die Spieler vom Féis Tailltenn kommen, wo sie mit viel Erfolg den Hochkönig unterhielten.«