Fidelma ging auf den alten Mann zu.
»Das sieht jeder Narr, daß er tot ist. Ich habe dich bitten lassen, nach Anzeichen von irgendwelchen Krankheiten bei ihm zu suchen.«
Der Heilkundige starrte sie mit seinen kurzsichtigen Augen forschend an.
»Natürlich hatte er Gebrechen«, erwiderte er schroff. »Er war schließlich ein kleinwüchsiger Mensch, nicht wahr?«
»Auch das ist offensichtlich«, erwiderte Fidelma mit spitzer Zunge. »Hat er an Lepra gelitten?«
»Hat er ... was?« fragte der alte Mann. »Soll ich dir jetzt etwa eine Lektion über die Grundlagen der Medizin halten?«
Inzwischen war Fiachrae gekommen. Er trat zu dem Heilkundigen.
»Das ist die Schwester von König Colgu, eine ddlaigh bei Gericht. Antworte sachlich auf ihre Fragen, sonst wirst du hier nicht länger deine Kunst ausüben können«, drohte er ihm leise.
Der Heilkundige blinzelte ein wenig und blickte wieder zu Fidelma.
»Der Zwerg hatte keine Lepra«, sagte er nun.
»Soweit du das beurteilen kannst, hat er jemals daran gelitten?«
»Nein, nie. Soviel ich weiß, kann man von dieser Krankheit nicht wieder genesen, auch wenn gewisse Fremde angeblich zu irgendwelchen Wunderheilungen in der Lage sind.«
»Genau das wollte ich von dir bestätigt haben«, sagte Fidelma. »Was wolltest du über die Fremden sagen, die angeblich zu Wunderheilungen fähig sind?«
Der alte Mann rümpfte abschätzig die Nase.
»Ist es einen Tag her? Da kam ein Fremder hier entlang ... Sein Begleiter dolmetschte für ihn, denn er selbst war kaum unserer Sprache mächtig. Sein Begleiter erklärte mir, daß er in seiner Heimat ein Heiler sei. Er behauptete, daß er verschiedene Kräuter kenne, die Lepra heilen könnten. Von den Pflanzen, die er mir nannte, war mir allein die Klette bekannt. Allerdings wußte ich bisher nur, daß man mit dem Saft der Klette Verbrennungen und Entzündungen zu heilen vermag.«
»Bei uns werden die jungen Stengel im Salat gegessen«, sagte Eadulf. »Welche Pflanzen hat der Fremde noch erwähnt?«
Der Heilkundige blickte ihn mißbilligend an.
»Er zählte fremde Namen auf. Nicht einmal der heilige Fintan von Teach Munna in Laigin konnte sich selbst heilen, als er sich die Lepra geholt hatte. Ich habe gehört, daß Bischof Petran einmal äußerte, Fintan sei von dieser Krankheit heimgesucht worden, weil er sich während der großen Synode von Magh Lene gegen die Autorität Roms aufgelehnt hatte. Er hatte sogar einige der Entscheidungen des Bischofs von Rom kritisiert, wie zum Beispiel dessen Zustimmung zu dem Edikt von Lyon, in dem festgelegt wurde, daß die Leprakranken von nun an aus der Gemeinschaft ausgeschlossen seien und eine Glocke bei sich tragen müßten, um ihre Mitmenschen vor sich zu warnen.«
Fidelma holte ungeduldig Luft.
»Uns geht es nicht um solche Heimsuchungen und ebensowenig darum, was an unserer Kultur und in unserer Kirche richtig oder falsch ist.« Sie blickte zu der Leiche auf dem Tisch hinüber. Der Zwerg trug nun wieder seine Kutte und war für das Begräbnis vorbereitet worden. Der Anblick der kleinen kinderähnlichen Gestalt war mitleiderregend.
»Nun gut«, sagte sie. »Wir möchten jetzt einige Minuten allein in deiner Hütte sein. Wartest du mit meinen Begleitern draußen? Fiachrae, du kannst hierbleiben. Eadulf, bitte Capa, die Spielleute reinzuschicken.«
Eadulf führte den verstimmten Heilkundigen zur Tür. Draußen standen Capa und seine Männer mit sechs kleinen Menschen in grellfarbigen Gewändern, offensichtlich die Theatertruppe.
»Sie können nun eintreten«, rief er Capa zu.
Der Krieger nickte, und die Spielleute liefen auf merkwürdige Weise an Eadulf vorbei in die Hütte des Apothekers, wobei sie sich neugierig umschauten.
Kaum waren sie eingetreten, als einer von ihnen einen Klageruf ausstieß und auf die Leiche auf dem Tisch deutete. Da schrien auch die anderen entsetzt auf. Für Fidelma erübrigte sich die Frage, ob sie den toten Mann kannten.
Derjenige, der den Klageruf ausgestoßen hatte, lief auf die Leiche zu und zupfte an ihr, als wolle er sich vergewissern, daß ihr Gefährte wirklich tot sei. Fidelma entdeckte zwischen ihm und der Leiche eine große Ähnlichkeit. Er schien von allen am meisten er-regt zu sein, und es war bedrückend, seinen Kummer mitanzusehen.
Sie ging zu ihm und legte eine Hand auf seine Schulter.
»Es tut mir leid, daß ich euch ohne Vorwarnung habe eintreten lassen. Ich wollte nur wissen, ob du oder einer deiner Gefährten den Toten erkennt.«
Der Zwerg hatte mit den Tränen zu kämpfen und sah zu ihr hoch.
»Natürlich erkenne ich ihn. Er war mein Bruder und gehörte zu unserer Truppe.« Wie viele seinesgleichen lispelte er.
»Und sein Name war Forindain?«
Der Zwerg starrte sie einen Moment an, dann schüttelte er den Kopf.
»Er hieß Iubdan. Forindain bin ich.«
Fidelma verbarg ihre Überraschung. »Dein Name ist Forindain?«
»Als solcher bin ich bekannt«, erwiderte der Zwerg. »Unsere richtigen Namen sind das nicht. Wir verwenden die Namen der Charaktere, die wir spielen. In unserer kleinen Liebesgeschichte von Bebo spiele ich den Forindain.«
»Und du bist kein Mönch, Forindain?«
»Das gehört zu meiner Rolle dazu - Bruder Forin-dain, der Leprakranke, betrügt in der Geschichte die Faylinn. Warum willst du das alles wissen?« Die Augen des kleinen Mannes wanderten zu seinem toten Bruder, und er bemerkte die Verkleidung, in der er steckte. »Ach, ich verstehe.«
»Da verstehst du mehr als ich«, sagte Fidelma. »Fo-rindain, es tut mir leid, daß dein Bruder tot ist. Glaube mir. Aber ich bin eine ddlaigh, und ich muß herausfinden, wie und warum er umgebracht wurde ...«
»Ist er umgebracht worden?« fragte der Zwerg. Jetzt erst hatte er den Abdruck des Stricks am Hals seines Bruders bemerkt. »Wer sollte wohl einen crossan umbringen wollen, einen fahrenden Schauspieler, der nirgendwo Feinde hat?«
»Genau das muß ich herausfinden. Komm mit mir in Fiachraes Zelt, dort wollen wir uns darüber unterhalten, und ich verspreche, daß ich dich und deine Gefährten anschließend in Ruhe trauern lassen werde.«
Der Zwerg zögerte, sah noch einmal seinen toten Bruder an und trat zu seinen Freunden.
»Unsere Trauer müssen wir einen Augenblick aufschieben. Einer von uns muß die Leute draußen informieren, daß wir unser Stück heute nicht geben. Ein anderer muß dafür sorgen, daß unser Freund, mein Bruder, in ein recholl, in ein Totenhemd, eingehüllt wird. Und wir müssen die Totenbahre vorbereiten, die fuat, damit wir ihn zu Grabe tragen können. Ich werde den Stammesfürsten fragen, wo wir ihn begraben dürfen. Also helft mir, meine Freunde, unterdessen spreche ich mit der Richterin. Wenn wir fertig sind, können wir gemeinsam mit der Totenwache beginnen, bis zum nächsten Tag trauern und dabei unsere Stimmen zum traditionellen caoine erheben.«
Fidelma überraschte sein eindringlicher Sprech-rhythmus, seine wohlartikulierte Rede. Doch der kleine Mann war ja Schauspieler.
Fiachrae führte Fidelma und den Kleinwüchsigen ins Zelt. Capa und seine Männer wies Fidelma an, sich zu stärken, bis sie wieder gebraucht wurden. Im Zelt ließ Fiachrae alle Platz nehmen und rief nach einem Diener, der corma bringen sollte. Zu seiner Überraschung schlugen all seine Gäste das starke Getränk aus, er jedoch schenkte sich einen ordentlichen Schluck davon ein.
»Du hast jetzt hier das Sagen, Cousine«, stellte er dann fest. »Tu, was du für richtig hältst.«
»Vielen Dank, Fiachrae«, erwiderte Fidelma. Sie hatte ohnehin nichts anderes vorgehabt. »So, wie soll ich dich nun nennen? Forindain?« fragte sie den Zwerg.