Der crossan senkte den Kopf. »Seit ich bei den fahrenden Schauspielern bin, werde ich so genannt, Schwester. Meine Eltern haben mich verstoßen, sobald sie es auf legale Weise tun durften. Das heißt, sie haben meinen Bruder und mich verstoßen. Wir wurden von einem obldire großgezogen, dem Leiter einer Schauspielertruppe. Er brachte uns bei, wie wir die Eigenheiten, mit denen uns die Natur bedacht hat, zur Unterhaltung unserer Mitmenschen einsetzen könnten. Nenne mich nur Forindain, denn dieser Name ist mir am vertrautesten.«
»Danke. Du kennst Fiachrae schon, den Fürsten von Cnoc Loinge, und das ist Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham aus dem Land des Südvolks hinter dem Meer.«
Forindain schaute erst Fiachrae, dann Eadulf an und sah wieder zu Fidelma.
»Und du bist, wie du sagst, eine ddlaigh?«
»Ich heiße Fidelma, Fidelma von Cashel.«
Forindain war erstaunt. »Bist du die Schwester von Colgu, dem König von Muman?« fragte er ruhig.
»Ja. Kennst du mich?«
»Ich habe gehört, daß du eine große ddlaigh bist.«
»Sonst nichts weiter?«
»Ist da noch etwas, was ich wissen sollte?« entgegnete er.
Fidelma schwieg einen Moment. Dann sagte sie: »Wir wollen uns über deinen Bruder Iubdan unterhalten. Erzähle mir von ihm.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Sein Leben glich dem meinen, bis man es ihm so grausam nahm. Seit wir den obldire verlassen haben, waren wir beide immer in ein und derselben Schauspieltruppe. Diese kleine Truppe haben wir gemeinsam geleitet.«
»Und wann ist Iubdan hier in Cnoc Loinge wieder zu euch gestoßen?«
»Zu uns gestoßen? Er war die ganze Zeit bei der Truppe. Ich bin hier dazugekommen und ...«
Plötzlich verstummte er und starrte sie an. Sein Gesicht wurde ganz blaß. Er fuhr sich mit der Hand an die Kehle.
»Was ist mit dir, Forindain?« fragte Fidelma und versuchte an dem Ausdruck seiner bernsteinfarbenen Augen zu erraten, was er gerade dachte. Da kam ihr intuitiv der richtige Gedanke.
»Du bist derjenige, der in Cashel war, und nicht dein Bruder, nicht wahr?«
»Ich werde dir alles erzählen, Fidelma von Cashel«, sagte Forindain langsam, »doch nun brauche ich erst einmal einen Schluck von dem corma, Fiachrae.«
Verwirrt erhob sich Fiachrae und schenkte ihm ein. Der Zwerg leerte seinen Becher in einem Zug.
»Wir sind in Tailltenn aufgetreten, vor dem Hochkönig«, fing er nachdenklich an. »Wir hatten eine Tournee geplant. Es sollte von der Stadt bei der Abtei Clu-ain Mic Nois nach Tir dha Ghlas und Cnoc Loinge gehen. Dann nach Ros Cairbre und in andere Städte, wobei wir uns Richtung Osten an der Küste nach Ard Mhor über Cluain Meala und schließlich zur Hauptstadt Cashel bewegen wollten.«
Fidelma lehnte sich zurück und betrachtete ihn nachdenklich.
»Warum erzählst du uns von dieser Reiseroute?«
»Unsere Truppe brach gemeinsam in Tailltenn auf, doch in Tir dha Ghlas, dem Land der zwei Flüsse, wo wir vor den Leuten aus der Siedlung um das Kloster herum spielten, habe ich meine Gefährten verlassen.«
»Aus welchem Grund?«
»Wir sind noch nie in Cashel aufgetreten. Also beschloß ich, der Stadt vorher einen Besuch abzustatten. Unglücklicherweise traf ich erst spät dort ein, es war schon fast dunkel. Ich wußte, daß ich nicht viel Zeit haben würde, mir am nächsten Vormittag die Stadt anzusehen. Es gab dort Aufregung, da hielt ich es für besser, mich einer Pilgergruppe anzuschließen, die nach Westen wollte. So schaute ich mir das Stadtinnere von Cashel an und begab mich dann zum Gasthof, wo die Pilger Unterkunft gefunden hatten.«
»Und du bist in deiner Verkleidung als Bruder Forindain, dem Leprakranken, durch Cashel gezogen?«
Forindain lächelte. »Das ist häufig eine sehr nützliche Art zu reisen. Es hält einem die Leute fern; in diesem Land glauben sehr viele, sie könnten so kleine Menschen wie mich reinlegen. Die Welt ist eben nicht vollkommen.«
»Das ist wohl wahr«, stimmte ihm Eadulf zu, dem seine Erklärung einleuchtete.
»Und warum trug nun dein Bruder deine Verkleidung?« fragte Fidelma überraschend streng.
Forindain mußte blinzeln.
»Wir bereiteten uns gerade auf die heutige Nachmittagsvorstellung vor«, erwiderte er nach kurzem Zögern. »Wir führen immer Geschichten von den Faylinn auf, den kleinen Menschen, das paßt gut zu uns. Ich spiele stets Bruder Forindain, den Leprakranken. Iubdan aber versuchte sich gern in verschiedenen Rollen, so konnte er, wenn einer von uns krank war, für ihn einspringen. Heute vormittag nahm mein Bruder deshalb mein Gewand und die Glocke und ging damit in den Wald, um zu proben.«
»Und das mußte er mit dem Leben bezahlen«, sagte Fidelma leise. »Er wurde mit dir verwechselt.«
»Du bist sehr klug, Schwester . Lady Fidelma, wollte ich sagen«, sprach der Zwerg langsam. Er hatte wohl das gleiche gedacht. »Doch ich begreife nicht, warum er umgebracht wurde - oder vielmehr, warum jemand mich umbringen wollte.«
»Es hat mit dem zu tun, was du in Cashel getan hast«, erwiderte Fidelma.
»In Cashel ist doch gar nichts geschehen«, stellte der Zwerg verwirrt fest.
»Erinnere dich genau. Irgend etwas muß dort passiert sein«, sagte Fidelma eindringlich.
»Kaum der Rede wert, außer daß ich mir einen scre-pall verdient habe und dann in der Scheune geschlafen habe, ehe ich mich den Pilgern nach Imleach anschloß. Normalerweise bin ich lieber allein unterwegs, doch da es erhebliche Unruhe gab, wie ich schon sagte, zog ich lieber mit den Pilgern nach Imleach. Gemeinsam im weitesten Sinne, denn ich lief ein Stück hinter ihnen her und schwenkte die Glocke, damit sie mir nicht zu nahe kämen. Es ist schon erstaunlich, wie rasch man als Aussätziger vorankommt.«
»Nun gut«, sagte Fidelma. »Reden wir noch einmal von Cashel. Womit hast du dir den screpall verdient?«
Der Zwerg zuckte mit den Achseln. »Ich habe eine Nachricht zur Burg gebracht - zur Burg deines Bruders, Lady. Ich sollte eine Frau namens Sarait ausfindig machen und ihr die Nachricht überbringen, daß ihre Schwester sie dringend zu sehen wünscht. Das war alles.«
»Und wie hat man dich für diesen Botendienst gewonnen?«
»Ich spazierte über den Marktplatz, die Dämmerung war angebrochen, und ich war gerade erst in Cashel angekommen. Es gab nur wenig zu sehen, also ging ich direkt weiter zum Gasthaus. Ich war schon ganz nahe, da sprang mich ein Hund an.« Die Stimme des Zwerges klang verbittert. »Das geschieht häufig. Meist ist es auch kein Zufall. Die Menschen können so grausam sein und lassen absichtlich ihre Hunde frei. Egal, diesmal wurde der Hund von einer Frau zurückgerufen. Sie stand im Schatten des Gasthauses. Dann sprach sie mich an. Sie bot mir einen screpall, wenn ich eine Nachricht zur Burg bringen würde. Ich sollte nach der Kinderfrau Sarait fragen und ihr ausrichten, daß Gobnat sie unverzüglich sehen wolle. Ich glaube, sie wollte es wiedergutmachen, daß mich ihr Hund angefallen hatte. Nun, es war noch zu früh, um sich schlafen zu legen, und ich wollte auch kein Aufsehen erregen, wenn ich gleich in die Gaststube ginge. Außerdem ist ein screpall doch ein ansehnlicher Verdienst.«
»Hat die Frau mitbekommen, daß du wie ein Aussätziger einen langen Umhang trugst?«
»Ich hatte die Verkleidung für gewisse Zeit abgelegt, damit ich in Ruhe im Gasthaus essen konnte.«
»Du sagst, daß die Frau im Schatten das Gasthauses gestanden hat.«
»Genau davor, draußen.«
»Hat sie dir erklärt, warum sie die Nachricht nicht selbst überbringen wollte?«
»Wenn man mir Geld anbietet, frage ich nicht viel nach.«
»Und wie hast du die Nachricht überbracht?«
»Sie sagte mir, daß die Wachleute vor der Burg mir vielleicht irgendwelche Fragen stellen würden. Deshalb sollte ich lieber so tun, als sei ich stumm. Nun, ich habe schon mehrmals einen Stummen gespielt. Aber ich fragte sie noch, wie ich den Wachleuten klarmachen sollte, zu wem ich wollte. Offenbar war sie gut vorbereitet. Sie zog ein Stück Birkenrinde aus ihrem marsupium hervor und reichte es mir. Da stand etwas drauf.«