Fiachrae schüttelte den Kopf.
»Ich habe von alldem nichts begriffen, Cousine.«
»Das ist auch das beste, Cousin«, erwiderte Fidelma feierlich. »Nichts von dem, was hier besprochen wurde, darf an die Öffentlichkeit dringen. Ich werde dich in Kenntnis setzen, sobald ich mehr weiß. So, da es schon auf Mittag zugeht, dürfen wir dich vielleicht um eine Stärkung bitten ... Etwas Eßbares«, fügte sie hinzu, da Fiachraes Blick hinüber zum Tisch wanderte, auf dem der Krug mit corma stand. »Nachdem wir dann gegessen haben, werden wir uns zurück nach Cashel begeben.«
Fiachrae blickte verwirrt drein.
»Aber der Mörder des Zwerges .?« protestierte er. »Wollt ihr nicht bleiben, um ihn zu finden?«
»Die Person, die für die Ermordung von Iubdan verantwortlich ist, müssen wir nicht in Cnoc Loinge, sondern in Cashel suchen. Mach dir keine Sorgen, Cousin. Ich werde dich benachrichtigen, sobald ich sie dingfest gemacht habe.«
Nachdem Fiachrae hinausgegangen war, um Anweisungen für das Mittagessen zu erteilen, fragte Eadulf Fidelma erstaunt: »Was willst du damit sagen?«
Fidelma blickte ihn kühl an. »Womit?«
»Daß der Mörder von Iubdan in Cashel zu suchen ist.«
»Ich sagte, daß die für den Mord verantwortliche Person in Cashel zu suchen ist.«
Eadulf atmete tief aus. »Soweit ich das beurteilen kann, stecken wir in einer Sackgasse. Jemand hat den unschuldigen Zwerg zur Burg geschickt, um Sarait zu ihrem Mörder hinauszulocken. Wenigstens haben wir nun erfahren, daß man nicht Alchu entführen wollte, sonst hätte die Botschaft gelautet, das Kind mitzunehmen. Es war purer Zufall, daß Sarait niemanden antraf, dem sie das Kind anvertrauen konnte, und es mitnehmen mußte.«
Fidelma sah ihn nachdenklich an.
»Da magst du recht haben, diesen Punkt muß man unbedingt im Auge behalten«, meinte sie.
»Aber es gibt keine Spur. Nicht die geringste.«
»Ganz im Gegenteil«, widersprach ihm Fidelma. »Ich glaube, daß mich die Beschreibung der Kleider jener Frau am Gasthaus genau zu der Person führen wird, die solche ungewöhnlichen Kleider trägt.«
Kapitel 8
Fidelma und Eadulf ritten zurück nach Cashel, ohne unterwegs viele Worte zu wechseln. Obwohl sie in Cnoc Loinge etwas unbefangener miteinander umgegangen waren, war die Spannung zwischen ihnen geblieben. Fidelma hatte Eadulf nicht verraten wollen, wer in Cashel Kleider trug, wie sie Forindain beschrieben hatte. Doch sie wußte es, und das beunruhigte sie sehr, denn bisher hatte sie diese Person für ihre Freundin gehalten. Im Moment konnte sie sich niemandem anvertrauen, am wenigsten Eadulf. Deshalb hatte sie ziemliche Gewissensbisse wegen ihres Streits in Imleach. Verstohlen blickte sie ihren Gefährten hin und wieder an. Eadulf schien in Gedanken versunken zu sein. Abgesehen davon, daß Fidelma Forindains Beschreibung der Frau am Gasthaus überrascht hatte, steckte ihr der Schreck über die Auseinandersetzung mit Eadulf noch in den Knochen. Vielleicht hatte sie sich geirrt, wenn sie angenommen hatte, daß ihn nichts aus der Ruhe bringen könnte. Schon seit langem war ihr klar, daß sie zu sehr daran gewöhnt war, ihren Kopf und ihre Autorität durchzusetzen. Nicht nur wegen ihrer privilegierten Herkunft, sondern wegen ihrer hart erkämpften Position als ddlaigh. Am meisten hatte sie an Eadulf geschätzt, daß er mit ihren Fehlern zurechtkam. Bisher hatte er ihre manchmal harsche Art und ihre Gefühlsausbrüche einfach hingenommen. Warum war das jetzt nicht mehr so? Das beschäftigte sie derart, daß sie darüber beinahe die Sorge um ihr verschwundenes Kind vergessen hätte.
Plötzlich begriff sie, daß sie in Zukunft ihre Entscheidungen viel rigoroser hinterfragen mußte.
Sie selbst hatte sich nie als Nonne gesehen. Ihre ganze Leidenschaft hatte immer dem Recht gegolten. Ein entfernter Cousin von ihr, Abt Laisran von Dur-row, hatte sie überredet, in das Doppelhaus von St. Brigid in Kildare einzutreten, da im Prinzip sämtliche Angehörige gehobener Berufe und alle Gelehrten Nonnen und Mönche waren, so wie vor einigen Generationen ihre Vorfahren den Druidenorden angehört hatten. Aber schon bald hatte sie gemerkt, daß das Klosterleben nichts für sie war. Als sich schließlich die Äbtissin von Kildare über das Gesetz hinweggesetzt hatte, hatte Fidelma das Ordenshaus verlassen und war nach Cashel zurückgekehrt.
Sie war in erster Linie eine ddlaigh und eine Prinzessin der Eoghanacht und dann erst eine Nonne. Ihre Rolle als Ehefrau und Mutter hätte sie beinahe vergessen, wie sie erschrocken feststellte. Mit ihren Kenntnissen der Heiligen Schrift, der Theologie und der Philosophie konnten viele andere, die sich für den neuen Glauben einsetzten, nicht mithalten. Sie beherrschte Latein und Griechisch fast so gut wie ihre Muttersprache. In der Sprache der Britannier konnte sie sich fließend verständigen. Auch im Sächsischen verfügte sie vor allem dank Eadulf über Grundkenntnisse. Doch ihre ganze Hingabe galt dem Recht. Wenn sie sich hätte entscheiden sollen, sie hätte sich immer für das Recht entschieden.
Doch wie verhielt es sich mit ihrer Aufgabe als Ehefrau und Mutter?
Eadulf war nicht ihre erste Liebe gewesen. Auf ihrer Reise nach Iberien - sie wollte zum Grab des heiligen Jakob pilgern - war sie ihrer ersten Liebe Cian wiederbegegnet. Das Ziel ihrer Pilgerreise hatte sie zwar nicht erreicht, aber sie hatte festgestellt, daß sie ihre Gefühle zu Eadulf nicht einfach abtun konnte. Was ihr Leben als Nonne betraf, so wußte sie nach dieser Reise, daß sie sich, in einem Kloster lebend, nicht weiter für Recht und Gesetz würde engagieren können.
Jetzt mußte sie sich über ihre Rolle als Ehefrau klar werden, auch wenn sie nur eine ben charrthach war. Und sie war eine Mutter. Eine Mutter! Auf einmal begriff sie, wie egoistisch sie war. Sie wußte, daß sie zu Alchu keine tiefe Bindung entwickelt hatte. Die Geburt war sehr schmerzhaft gewesen, und sie hatte ihr Baby zunehmend abgelehnt, weil es sie an die Burg ihres Bruders fesselte und von ihrem Beruf fernhielt. Eadulf ahnte vermutlich, daß sie ihr gemeinsames Kind ablehnte. Das machte sie noch wütender auf ihn.
Eadulf hatte versucht, ihr irgendeinen ungenießbaren Johanniskraut-Trank einzuflößen. Fidelma war nicht dumm. Sie wußte, daß die Ärzte von Éireann Frauen, die nach einer Geburt niedergeschlagen und mutlos waren, Johanniskraut verabreichten.
Nun war ihr Kind entführt worden oder gar schlimmer noch. Und seine Amme war tot. Sie versuchte, ihre Gedanken und Ängste logisch zu analysieren. Andere Frauen mochten sich in dieser Situation die Haare raufen und von Gram gebeugt sein. Fidelma hingegen blieb ruhig und dachte logisch wie immer. Das war ihr besonderes Talent, oder war es gar ein Fluch? Was hatte ihr Mentor, Brehon Morann, einmal gesagt? »Du hast ein Talent zur Logik, Fidelma, besonders wenn es um persönliche Dinge geht. Versuche deine Intuition weiterzuentwickeln, denn manchmal ist die Logik wie ein Dolch ohne Griff. Sie kann einem ins eigene Fleisch schneiden.«
Tief in ihrem Inneren wußte sie, daß sie am liebsten schreien würde, wie jede andere Mutter auch, der man das Baby entrissen hat. Es war ihr Verstand, der sie davon abhielt, und nicht mangelnde Gefühle zu ihrem Kind. Warum sollte sie in dieser Situation auch den Emotionen freien Lauf lassen? Dadurch wäre sie der Klärung des Falls keinen Schritt näher. Später bliebe noch genügend Zeit für Gefühle.
Eine Zeile von Euripides fiel ihr ein: »Der Verstand kann sogar die Angst herausfordern und besiegen.«
Auf einmal entspannte sich ihr Gesicht, und sie seufzte innerlich.
Ja, später war noch genügend Zeit für Gefühle.
Colgu war zu den Toren der Burg gekommen, als sie den Hang zur Burganlage von Cashel hinauf ritten. Finguine, sein Tanist, befand sich an seiner Seite. Auch einem ungeübten Beobachter wäre aufgefallen, daß sie wichtige Neuigkeiten mitzuteilen hatten. Fidelmas Herz schlug schneller.