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»Du kommst gerade rechtzeitig, Schwester«, rief Colgu, als sie ihr Pferd zum Stehen brachte.

»Rechtzeitig? Wofür? Was gibt es?« fragte Fidelma und saß rasch ab, wobei sie ihren Bruder besorgt anblickte. »Gibt es Neuigkeiten? Von Alchu?«

»Jawohl«, erwiderte Colgu sofort und legte beruhigend eine Hand auf den Arm seiner Schwester. »Alchu ist am Leben. Soeben erhielten wir ein Erpresserschreiben.«

Fidelma hörte, wie Capa hinter ihr rief: »Hätten wir besser hier gewartet, als uns vergeblich da draußen abzumühen.« Sie drehte sich nicht um, sondern schaute ihren Bruder ängstlich an und versuchte zu ergründen, welche Bedeutung diese neue Nachricht hatte.

»Ein Erpresserschreiben? Wo ist es?«

»In meinen Gemächern.« Er winkte den Dienern zu, den Ankömmlingen die Pferde abzunehmen. Dann ging er mit Fidelma in das Hauptgebäude der Burg. Eadulf und Finguine folgten ihnen. Auch Capa, der zuvor Caol und Gorman zu den Ställen geschickt hatte, schloß sich ihnen an.

»Also ist es doch eine Entführung, oder?« fragte Capa.

»Sieht ganz danach aus«, erwiderte Finguine, der sich kurz umdrehte.

»Was ist das für eine Botschaft? Wie ist sie überbracht worden? Was genau wird gefordert?« Die Fragen stürzten nur so aus Fidelmas Mund.

»Du wirst die Nachricht noch früh genug sehen«, sagte Colgu leise. »Man fand sie an der Tür des hiesigen Gasthofes mit der Anweisung, sie zu mir zur Burg zu bringen. Die Forderungen darin sind ganz simpel. Wie du weißt, haben wir in der Schlacht von Cnoc Äine mehrere Krieger der Ui Fidgente gefangengenommen. Darunter befanden sich drei bedeutende Stammesfürsten, Cousins des ehemaligen Kleinkönigs Eoganan. Sie sind seitdem unsere Geiseln, so konnten wir bisher ihr Volk zwingen, sich friedlich zu verhalten.«

Fidelma runzelte ungeduldig die Stirn. »Und? Was hat das mit Alchu zu tun?«

»Man verlangt ihre Freilassung«, erwiderte Colgu. »Sobald sie freigelassen sind, wird Alchu wohlbehalten zu uns zurückkehren.«

Ein kurzes Schweigen folgte.

»Also ist es wieder eine neue Intrige der Ui Fidgente«, stellte Capa darauf geradezu triumphierend fest.

»Das scheint so zu sein«, erwiderte Finguine.

Colgu führte sie in seine Privatgemächer. Auf dem Tisch lag ein Stück Birkenrinde. Fidelma nahm es in die Hand und besah es sich genau.

»Birkenrinde. Die andere Botschaft, die Forindain zur Burg brachte, war auch auf Birkenrinde geschrieben worden«, flüsterte sie Eadulf zu.

Colgu wollte gerade etwas fragen, schwieg aber lieber. Seine Schwester würde alles zum richtigen Zeitpunkt erklären.

Es war weithin üblich, auf Birkenrinde zu schreiben. Vor langer Zeit hatte man herausgefunden, daß man die weiße Oberschicht der Birkenrinde in dünneren Schichten abziehen konnte und sie, nachdem man sie gepreßt und getrocknet hatte, beschreiben konnte. Fidelma besah sich das Stück Rinde noch einmal genau.

»Es sieht nicht so aus, als sei die Nachricht von einer im Schreiben geübten Hand verfaßt worden. Die Buchstaben wirken kindlich, so als hätte jemand ihm nicht vertraute Zeichen nachgemalt.«

Capa lachte zynisch. »Wer behauptet denn, daß die Ui Fidgente gebildet sind?«

Fidelma überging seine Bemerkung. Eadulf wies darauf hin, daß die Schrift womöglich bewußt in die Irre führen sollte, um die wahre Herkunft der Nachricht zu verschleiern.

»Warum sollte man das tun?« Finguine schien der Gedanke zu erheitern. »Die Herkunft ist doch klar: es ist eine Nachricht im Auftrag der Ui Fidgente. Da läßt sich nichts verschleiern.«

Fidelma legte die Birkenrinde auf den Tisch zurück und blickte in die Runde. »Welchen Beweis haben wir dafür, daß diese Nachricht echt ist?« fragte sie ruhig.

Alle sahen sie überrascht an.

»Du bezweifelst, daß sie echt ist?« fragte Colgu erstaunt.

»Es ist kein Geheimnis, daß mein Kind entführt wurde«, erwiderte Fidelma. »Warum hat man die Forderung erst nach einer Woche gestellt? Es könnte gut sein, daß da jemand nur die Umstände zu seinen Gunsten ausnutzen will.«

Finguine schüttelte den Kopf.

»Würde es um Lösegeld gehen, dann müßte man über so etwas nachdenken. Aber es geht hier um eine politische Forderung. Warum sollte jemand die Freilassung der Fürsten verlangen, wenn er Alchu nicht hätte?«

»Es wäre gefährlich, diese Botschaft für nicht echt zu halten und abzutun«, meldete sich Capa zu Wort. »Das Leben des Kindes steht auf dem Spiel.«

»Ich bin die Mutter des betroffenen Kindes«, fuhr Fidelma wütend dazwischen. Die Andeutung, daß sie sich nicht um Alchu sorgte, brachte sie sehr auf. Entschlossen fügte sie hinzu: »Wir müssen logisch vorgehen.« Bei dem Wort >logisch< durchzuckte sie erneut ihr Schuldgefühl, doch sie sprach weiter und nahm die Birkenrinde wieder in die Hand. »Man verlangt von uns, daß wir drei Stammesfürsten der Ui Fidgente freilassen ... Und zwar vor Ablauf zweier Tage ...«

»Und dann sollen die drei genügend Zeit haben, über die Grenze in das Gebiet der Dal gCais zu gelangen, und erst danach wird Alchu freigegeben werden, nicht eher«, ergänzte Colgu.

»Das ist eigenartig«, bemerkte Eadulf nachdenklich. »Ich schließe mich eher Fidelmas Meinung an, daß wir erst einen Beweis für das Wohlergehen des Kindes haben müssen. Wenn wir jemandem zutrauen, die günstige Gelegenheit auszunutzen, um ein Lösegeld einzustreichen, so müssen wir ihm auch zutrauen, sie für das Durchsetzen einer politischen Forderung auszunutzen. Macht und Geld sind sich als Motiv nicht so unähnlich.«

Fidelma sah anerkennend zu ihm hin.

»Es ist auch riskant zu hoffen, die Ui Fidgente würden sich wirklich an ihren Teil der Abmachung halten«, sagte sie.

»Diesbezüglich stimme ich dir zu«, meinte nun Finguine.

»Meiner Ansicht nach sollten diejenigen, die uns die Nachricht geschickt haben, wer immer sie auch sein mögen, einen Beweis dafür erbringen, daß Alchu wirklich bei ihnen ist, ehe wir ihnen die Stammesfürsten ausliefern.«

Alle Blicke waren nun auf Eadulf gerichtet, der das ruhig und bedacht geäußert hatte.

»Komm schon, wir reden hier über deinen Sohn«, mahnte ihn Capa, dessen hübsches Gesicht rot wurde. »Wir sollten alle Anstrengungen unternehmen, um ihn zu befreien und nach Cashel zurückzubringen.«

Eadulf drehte sich um und sah Capa direkt in die Augen. Langsam und leise sagte er: »Glaubst du etwa, daß mir nicht klar ist, daß es hier um meinen Sohn geht? Ich hoffe, daß alle im Raum Versammelten darin übereinstimmen, daß ich um sein Wohlergehen genauso besorgt bin wie alle anderen.« Fidelma errötete leicht, alle schwiegen betreten. Sie hatte gerade darlegen wollen, daß Eadulf vom Standpunkt des Gesetzes her unrecht hatte. Unter normalen Umständen waren beide Eltern für das Wohlergehen und das Aufziehen eines Kindes verantwortlich. War der Vater ein Ausländer, also nicht dem Volk der Mutter angehörig, so lag die Verantwortung für das Aufwachsen des Kindes ganz bei der Mutter. Doch jetzt kam es auf solche Dinge nicht an. Eadulf sprach weiter: »Wie Fidelma schon sagte, die Nachricht ist kein Beweis dafür, daß der Verfasser wirklich im Besitz des Kindes ist, auch gibt er keine weiteren Garantien für seine Freilassung. Das ist ziemlich eigenartig für so einen Austausch. Ehe wir etwas unternehmen, sollten wir mehr wissen.«

»Du würdest also das Leben deines Sohnes gefährden?« fragte Capa ganz entgeistert. Die anderen murmelten zustimmend. Fidelma hob eine Hand und verlangte Ruhe.

»Eadulf hat völlig recht«, sagte sie mit fester Stimme. »Da taucht auf einmal aus dem Nichts eine Botschaft mit Forderungen auf. Erpresserischen Forderungen, die möglicherweise dieses Königreich in Gefahr bringen, denn jene Fürsten der Ui Fid-gente sind unsere erbitterten Feinde und verwandt mit ihrem Anführer Eoganan, der bei dem Versuch, die Herrschaft über das Königreich meines Bruders an sich zu reißen, ums Leben kam. Wir brauchen einen Beweis dafür, daß Alchu wirklich in ihren Händen ist.«