»Ohne Plan können wir nicht weitermachen«, sagte er. »Wir müssen auf jeden Fall etwas unternehmen. Ich bin mit deinem Vorhaben einverstanden.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren drehte sich Colgu um und griff nach einer kleinen Silberglocke. Kaum hatte er damit geläutet, öffnete sich die Tür und mehrere Männer traten ein. Eadulf stand auf. Obwohl er der Gatte von Colgus Schwester war, galt er im Königreich von Muman als Fremder; ein vornehmer Fremder zwar, aber dennoch ein Ausländer, ein Besucher aus dem Land des Südvolks, aus den Königreichen der Angeln und Sachsen.
Die Männer traten der Rangfolge nach ein. Zuerst der hübsche junge Prinz Finguine, Colgus Cousin, der Tanist und Nachfolger des Königs war. Dann kam der bejahrte Brehon Dathal, der oberste Rechtsberater und Richter bei Hofe. Mit ihm erschien Cerball der Barde, der ein Kenner aller Stammbäume und der Geschichte des Königreiches war. Er trug einen Lederbeutel. Als nächster folgte Ségdae, der Bischof von Imleach, comarb oder Nachfolger des heiligen Ailbe, der als erster das Christentum nach Muman gebracht hatte. Danach trat Capa ein, Befehlshaber der ausgewählten königlichen Leibgarde, deren Angehörige alle als Zeichen der Ehre einen goldenen Halsring trugen. Capa war zudem Schwager von Alchus Amme, die man ermordet hatte. Die engsten Regierungsberater von König Colgu im größten der fünf Königreiche von Éireann waren nunmehr versammelt.
König Colgu schritt zu einem runden Eichentisch am anderen Ende des Raumes und nahm Platz.
»Setzt euch. Wir werden ohne große Vorreden sofort zur Sache kommen und in dieser Runde alle wie Gleichberechtigte sprechen. Eadulf - du sollst neben mir sitzen, hier zu meiner Linken.«
Eadulf verbarg sein Erstaunen über diesen Vertrau-ensbeweis des Königs vor dem Kronrat. Die anderen Männer empfanden diese Ehrerbietung einem Fremden gegenüber weder ungewöhnlich noch fühlten sie sich ausgegrenzt. Es war vielmehr ganz allein Eadulfs Unsicherheit zuzuschreiben, daß ihn sein Status als Fremder immer wieder so vordergründig beschäftigte. Ständig ging ihm durch den Kopf, daß er zwar der Vater von Fidelmas Sohn, aber nur ihr fer comtha war und nicht ihr richtiger Ehegatte. Die Ehegesetze der fünf Königreiche waren kompliziert, es existierten mehrere Definitionen für den wahren Ehestand. So gab es tatsächlich neun verschiedene Formen von Partnergemeinschaften. Da man in Eadulfs und Fi-delmas Fall den Status und die Rechte von Ehegatte und Ehefrau aus dem Gesetz des Câin Länamnus herleitete, handelte es sich hier um eine Ehe auf Probe für ein Jahr und einen Tag. Nach Ablauf dieser Frist konnten sich beide Partner schuld- und straflos trennen, wenn die Beziehung nicht glücklich verlaufen war. Eadulf war sich der zeitlichen Begrenztheit seiner Position sehr bewußt.
Die Ratsmitglieder nahmen um den runden Tisch herum Platz. Es herrschte ein unangenehmes Schweigen, während Colgu prüfend in die Runde blickte. Schließlich ergriff er das Wort.
»Ihr wißt alle, warum ihr hergebeten wurdet. So wollen wir mit den uns bekannten Fakten beginnen.«
Daraufhin räusperte sich Cerball, der Barde und Chronist. »Die Fakten liegen auf der Hand. Die Amme Sarait ist ermordet worden, und das Kind, das in ihrer Obhut war, wurde entführt. Es handelt sich um den kleinen Alchu, den Sohn von Fidelma von Cashel und Eadulf von Seaxmund’s Ham. Dieses schreckliche Ereignis trug sich vor vier Tagen zu.«
Nun folgte eine Pause.
»Es gibt noch einiges zu ergänzen«, sagte Colgu. »Sarait hat fast sechs Monate als Amme hier auf der Burg gedient. Meine Schwester hatte sie in ihre Dienste genommen, weil sie nach der Geburt ihres Kindes eine Amme brauchte. Ist das richtig, Eadulf?«
Eadulf war überrascht, daß er im Kronrat vom König angesprochen wurde, und schaute auf. Colgu lächelte ihm ermutigend zu. Er ahnte, weshalb der Sachse zögerte.
»Dir ist gestattet, dich während der gesamten Sitzung sofort zu Wort zu melden«, sagte er.
Eadulf neigte den Kopf. »Also. Sarait wurde von mir und Fidelma sehr geschätzt. Fidelma vertraute ihr so sehr, daß wir sie zur Amme unseres Sohnes nahmen. Als man uns bat, wegen der Lösung eines komplizierten Falls nach Rath Raithlen zu reisen, gaben wir Alchu ohne Bedenken in ihre Obhut.«
Colgu blickte zu Capa. »Sarait war die Schwester deiner Frau, Capa. Was kannst du dem noch hinzufügen?«
Der Befehlshaber der Leibgarde schob mit einer etwas eitlen Geste seine blonden Haare nach hinten und lehnte sich zurück. Seine blauen Augen blickten eindringlich und ernst. Er wirkte betrübt.
»Sarait war eine hübsche Frau, eine reife Frau«, sagte er betont langsam und wählte seine Worte sehr sorgfältig. »Sie war weder leichtsinnig noch unbedacht, sie war sich ihrer Verantwortung voll bewußt. Sie war Witwe. Ihr Mann, Callada, starb als Krieger bei der Verteidigung des Königreiches gegen die Ui Fidgente in der Schlacht von Cnoc Äine. Für Saraits Redlichkeit kann ich mich verbürgen. Ihre Schwester Gobnat ist, wie jeder weiß, meine Frau. Wir wohnen in der Stadt unterhalb des Felsens. Sarait hat im Schloß gedient, wie Bruder Eadulf schon sagte. Ihr eigenes Baby war gestorben, da stellte Lady Fidelma sie als Amme für ihr Kind ein.«
Colgu blickte in die Runde. »Als ich von Saraits Tod erfuhr, habe ich mich gleich nach den näheren Umständen erkundigt. Man berichtete mir, daß ein Kind mit einer Nachricht für Sarait in der Burg aufgetaucht war. Angeblich stammte die Nachricht von ihrer Schwester Gobnat, die Sarait darum bat, sie sofort aufzusuchen.«
»Gab es einen Grund, warum Gobnat ihre Schwester so dringend sehen wollte?« meldete sich nun Bre-hon Dathal zu Wort. »Der Grund ist nicht bekannt«, erwiderte Colgu. »Offenbar fand Sarait niemanden, dem sie das Baby anvertrauen konnte, als sie die Burg verließ, deshalb nahm sie es mit. Weiterhin vermuten wir, daß sie tatsächlich in die Stadt gehen wollte, um Gobnat aufzusuchen. Ungefähr eine Stunde später entdeckte der Holzfäller Conchoille auf seinem Nachhauseweg Saraits Leiche im Wald außerhalb der Stadt. Von dem Baby gab es keine Spur.«
Niemand sagte etwas. Was Colgu vorgetragen hatte, war bereits alles bekannt.
»Capa, für das Protokoll ist noch wichtig, was deine Frau über die Botschaft an Sarait auszusagen hat«, warf nun Brehon Dathal ein.
»Sie hat nie eine solche Nachricht an ihre Schwester geschickt. Sie und ich wußten von alldem nichts, bis wir von Saraits Tod erfuhren«, antwortete Capa sofort.
»Und wann geschah das genau?« fragte der alte Richter.
»Conchoille klopfte gegen Mitternacht an unsere Tür und teilte uns mit, daß er Sarait tot aufgefunden hätte. Ich ging mit ihm mit, schickte aber zuvor einen Boten zur Burg, um die Wachposten zu alarmieren. Erst später erfuhren wir, daß Sarait die Burg mit dem Baby verlassen hatte.«
»Und was ist mit dem Kind, das angeblich eine Nachricht von deiner Frau überbrachte?« erkundigte sich Brehon Dathal.
Capa hob hilflos die Arme.
»Das Kind konnte nicht ermittelt werden, und bei der Suche in der Stadt und der näheren Umgebung fand man es auch nicht.«
»Aber gewiß hat doch der Wachposten, der das Kind einließ ...?« fing Eadulf an.
Capa schüttelte den Kopf.
»Der Wächter erinnert sich nur an ein kleines Kind in einem grauen Wollumhang. Es hatte eine Kapuze auf, ähnlich wie die Mönche sie tragen. Außerdem schien es stumm zu sein, denn es reichte dem Wächter ein Stück Birkenrinde, auf dem geschrieben stand: >Man schickt mich zu Sarait.< Dem Mann ist noch aufgefallen, daß das Kind recht stämmig war und einen eigenartigen Gang hatte.«
»So jemand ist doch gewiß nicht schwer zu finden«, murmelte Brehon Dathal.
»Trotzdem war die Suche vergeblich«, wiederholte Capa.
»Und das Stück Birkenrinde?« fragte Eadulf. »Ist das sichergestellt worden?«
»Nein.«
Eadulf schüttelte seufzend den Kopf. All das wußte er bereits.