Der Verwalter wurde kreidebleich.
»Bruder Eadulf, er ist den meisten Leuten in dieser Gegend bekannt. Schon zu Zeiten von Prinz Eoganan war Uaman Herr der Bergpässe des Sliabh Mis. Damals war er noch nicht leprakrank, sondern Kriegersproß von Eoganan, der, wie du vielleicht weißt, ein brutaler Tyrann war und die Eoghanacht in Cashel stürzen wollte. Eoganan fiel bei Cnoc Äine .«
»Ich weiß.« Eadulf nickte voller Ungeduld. »Was ist nun mit Uaman?«
»Er war der jüngste Sohn und Berater von Eoganan und noch schlimmer als der Despot selbst. Er hat dafür gesorgt, daß das Leben in den Abteien und Klöstern des Königreiches unerträglich wurde. Er schickte Krieger gegen uns aus und forderte Tribut. Aber Gott bestraft Zügellosigkeit.«
Eadulf zog die Augenbrauen hoch.
»Ach, du meinst wohl damit seinen Aussatz?«
»Genau. Noch vor der Schlacht bei Cnoc Äine hat er sich diese Krankheit zugezogen. Irgendwie hat er seine Macht erhalten können, und bis zur Niederlage der Ui Fidgente war er auch wirklich hier der Herr der Bergpässe. Doch nach der Niederlage seines vom Unglück verfolgten Vaters zog sich der Tyrann mit einer kleinen Schar Anhänger in diesen Winkel des Königreiches zurück. Zum Glück sind es nicht so viele wie früher. Er hat jetzt kaum mehr als sechs Krieger, die ihn beschützen - arme, verirrte Seelen. Sie folgen ihm, weil ihre Seelen und ihr Fleisch genauso in Auflösung begriffen sind wie seines.«
»Kommt es hier noch zu Überfällen?«
»Inzwischen sind wir stärker als er. Doch mit seinen wenigen Kriegern kontrolliert er nach wie vor die Straßen der großen Halbinsel nördlich von uns, wo das Land der Corco Duibhne liegt. Die Halbinsel erstreckt sich fast fünfzig Kilometer in die wilde, offene See hinaus. Sie ist gebirgig und öde, und die Wege dort sind so schmal, daß Uaman sie leicht absperren und von den Reisenden Wegzoll verlangen kann.«
»Der Stammesfürst der Corco Duibhne wird ihm doch sicher den Kampf angesagt haben? Wenn er nur noch sechs Männer hat, könnte man ihn mit Leichtigkeit überwältigen.«
»Das ist nicht so einfach, mein Freund. Uaman hält sich in einer uneinnehmbaren Festung auf. In einer steinernen Burg, deren Mauern sich kreisförmig um einen Turm erheben und sich um die gesamte kleine Insel ziehen, daß selbst große Armeen sie nicht einnehmen können.«
»Erzähl mir mehr von diesem Ort.«
»Von Uamans Turm?«
»Wo befindet er sich?«
»Nicht weit von hier, sächsischer Bruder. Du nimmst von unserer Abtei aus den Weg nach Norden, reitest um die große vor dir liegende Bucht herum und passierst dabei zu deiner Rechten die Gebirgskette. Der gerade und schmale Weg führt dich dann weiter nach Westen. Bei Flut ist die Insel vom Festland abgeschnitten, aber bei Ebbe bildet sie fast eine Halbinsel, denn die Sanddünen erstrecken sich bis zu dem Grashügel, auf dem sich Uamans Turm erhebt.« Der Verwalter griff Eadulf unerwartet am Ärmel und zog ihn mit sich fort. »Komm mit zu unserem Aussichtsturm, sächsischer Bruder. Dann kannst du vielleicht in der Ferne den Turm sehen.«
»Ist er so nah?« fragte Eadulf überrascht und ein wenig erleichtert.
»Möglicherweise kann man ihn auf der anderen Seite der Bucht erkennen«, erwiderte der Verwalter, »doch der Ritt um die ganze Bucht herum dauert ziemlich lange.«
Tatsächlich konnte Eadulf von der Spitze des Abteiturms jenseits des grauen Wassers der Bucht einen schwarzen Turm in der Ferne ausmachen. Er hob sich kaum von der dunklen Gebirgswand dahinter ab. Von hier sah es so aus, als befände sich der Turm auf dem Festland an der Nordseite der Bucht.
»So uneinnehmbar sieht der doch gar nicht aus«, stellte er fest.
»Täusch dich da mal nicht, sächsischer Bruder«, erwiderte der Verwalter. »Der Streifen Sand, der die Insel mit dem Festland verbindet, ist scheinbar fest und sicher, wenn Ebbe ist, doch dort gibt es beo-gainneamh, auf die man höllisch aufpassen muß. Darin kann eine ganze Armee verschwinden.«
Eadulf verstand nicht gleich und fragte nach. »Meinst du Schilfgras?«
Der Verwalter schüttelte den Kopf. »Gainneamh«, wiederholte er.
»Ah, Sand meinst du«, berichtigte sich Eadulf. »Aber beo-gainneamh? Bedeutet das lebendiger Sand?«
Der Verwalter nickte. Eadulf begriff erst nach ein paar Augenblicken, daß es sich um Treibsand handeln mußte. Er erschauerte.
»Auch wenn Ebbe ist, ist es gefährlich, sich dem Turm zu nähern. Es ist eine naturgeschaffene Festung.
Und wenn dann die Flut einsetzt, kommt sie so rasch, daß der schmale Sandstreifen, der Insel und Festland verbindet, sofort von Wasser bedeckt wird. Der Stammesfürst der Corco Duibhne hat einmal versucht, den Turm anzugreifen, dabei hat er ein Dutzend Männer verloren.«
»Nun, ich möchte Uaman ja auch nicht angreifen, ich möchte ihn nur treffen und zur Rückgabe meines Kindes bewegen.«
Der Verwalter zog die Augenbrauen hoch.
»Von Uaman verlangt man nichts. Man geht ihm aus dem Weg. Du sagst, daß du ihn um die Rückgabe deines Kindes bitten willst? In diesem Fall sollte Colgu besser eine starke Armee ausrüsten - nur so wird Ua-man etwas zurückgeben, was ihm nicht gehört.«
»Danke, daß du mich warnen willst, Bruder. Aber vielleicht weiß er gar nicht, wessen Kind er da festhält? Manchmal kann ein einzelner, der die Sprache der Vernunft spricht, mehr erreichen als eine ganze Armee.«
»Ich werde für dich beten, sächsischer Bruder, so wie ich für die anderen Glaubensbrüder vor dir gebetet habe.«
»Die anderen Glaubensbrüder? Wen meinst du damit?« fragte Eadulf erstaunt.
»Vor ungefähr einer Woche kehrte ein Bruder aus Ulaidh mit einem fremden Mönch aus einem fernen Land bei uns ein. Ich glaube, er war Grieche. Sie erkundigten sich wie du nach Uaman. Ich erklärte ihnen, wo sie ihn finden könnten. Dann brachen sie auf.
Sie versprachen, in ein paar Tagen zurück zu sein. Bisher sind sie noch nicht wieder aufgetaucht.«
Eadulf rieb sich die Schläfe. »Ich habe unterwegs von diesen beiden Mönchen gehört. Was mag sie wohl zu Uaman führen?«
Der Verwalter zuckte die Achseln. »Der Fremde sprach unsere Sprache nicht gut, aber sein Begleiter erzählte mir, daß er ein bedeutender Arzt aus dem Osten sei, der unsere Gegend kennenlernen will und auf das Heilen von Lepra spezialisiert sei. Ihm selbst sei eine Belohnung versprochen worden, wenn er diesen Arzt zu Uaman brächte, damit er dessen Leiden lindere.«
»Vielleicht haben sie auf dem Rückweg eine andere Route eingeschlagen?«
Der Verwalter lächelte traurig. »Sie versprachen, auf dem selben Weg zurückzukommen, denn der Fremde wollte uns berichten, wie man in seinem Land den christlichen Glauben lebt. Ich mache mir große Sorgen um sie, wirklich.«
Eadulf dachte einen Augenblick nach und lächelte dann düster.
»Nun, wie es aussieht, muß ich bei diesem Herrn der Bergpässe, diesem Uaman, wohl vorsichtig sein. Ich danke dir für die Ratschläge, Bruder. Wie ein guter Freund von mir sagen würde - praemonitus, prae-munitus.«
»Gewarnt sein heißt, gewappnet sein«, übersetzte der Verwalter feierlich. »So sei es, sächsischer Bruder. Sei gewappnet und sei vor allem vorsichtig.«
Fidelma starrte die drei bewaffneten Krieger der Ui Fidgente an. Sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie bestürzt sie über den Mord an dem Jagdaufseher und dessen Sohn war. Sie wollte gebieterisch auftreten.
»Was tut ihr hier?« fragte sie streng. »Ihr solltet doch in eure Heimat zurückkehren, damit eure Freunde meinen Sohn freilassen.«
Cuirgi stieß ein höhnisches Gelächter aus. »Du glaubst doch nicht wirklich, daß wir auf diesen Trick reinfallen?«
»Trick?« fragte Fidelma verwirrt.
»Erpresserschreiben und dergleichen. Eine List, mehr nicht, um uns aus dem Schutz deines Bruders zu locken, damit seine Anhänger uns an der Straße auflauern und niedermetzeln können. Damit wäre ein Problem mehr für deinen Bruder gelöst, nicht wahr?«