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Er war einen Gebirgspfad entlanggeritten und hatte sich von menschlichen Behausungen ferngehalten. Der Weg war öde und voller bedrohlicher Schatten. An der Stelle, an der Eadulf zum bewaldeten Ufer der Bucht abgebogen war, hatte er weiter oben in den Bergen eine Reihe von Hütten entdeckt und sie für eine Siedlung gehalten. Da diese in der Nähe des Turms lag, waren die Bewohner sicher treue Anhänger jenes Tyrannen oder standen zumindest in seinen Diensten.

Nun würde er in seinem Versteck auf das Einsetzen der Ebbe warten und dann zur Insel hinüberlaufen. Anders ging es wohl nicht. Er würde Uaman einfach den Grund seines Besuchs erklären. Die Vernunft würde siegen. Der Herr der Bergpässe war sicher nicht so böse, wie ihm die Leute nachsagten. Niemand war nur böse. Diese Überlegungen stimmten ihn zuversichtlich.

Er würde Alchu nach Cashel zurückbringen. Vielleicht könnte er dann mit Fidelma in Ruhe über ihr Zusammenleben reden, das im letzten Jahr einigen Belastungen ausgesetzt war. Es mußte eine Lösung geben.

Ungefähr eine Stunde später bemerkte er, daß die Ebbe einsetzte. Er schätzte, daß erst am frühen Abend das Wasser zurückkehren würde. Er stand auf und lief zum Ufer, um den Übergang zur Insel zu suchen. Ein ungeübtes Auge konnte ihn nicht so ohne weiteres erkennen. Die Sanddüne, die vom weichenden Wasser freigegeben wurde, wirkte ausreichend fest. Er sah, wie die Krabben über den Sand dem Wasser hinterherliefen. Hier und da zappelte ein Meerbarsch oder ein Schellfisch in einer Wassermulde. Er sah zu der dunklen Insel hinüber. Der Dünenweg wirkte recht breit, doch wenn es dort wirklich Treibsandstellen gab, war es besser, sich ausschließlich an den höchsten Grat der Düne zu halten.

Eadulf zögerte einen Moment. Dann verließ er das Ufer und rannte zwischen Bäumen und Büschen umher, bis er auf den abgebrochenen Ast einer Eibe stieß. Er nahm sein Messer und schnitzte sich einen passablen Stock von ein Meter achtzig Länge zurecht. Er ging zum Ufer zurück und machte behutsam die ersten Schritte über den Dünenweg. Der feuchte Sand gab ein wenig unter seinen Füßen nach, doch sie sanken nur wenige Zentimeter tief ein. Der Sand schien ihn zu tragen. Eadulf prüfte vor jedem Schritt mit dem Stock, ob der Boden sicher war.

Nach einer Weile hatte er die Verbindung zur Insel überquert. Er blickte zurück auf seine Fußspuren. Wenn er sich bei seiner Rückkehr an sie hielte, würde es leichter sein.

Eine Treppe aus Steinplatten führte hinauf zur grasbewachsenen Kuppe der Insel und weiter auf den bedrohlichen grauen Steinwall zu, der den Turm umgab. Er wirkte groß, so groß, wie manche Abteien, die er kannte. Kein Mensch war zu sehen. Ein großes Eichenholztor mit zwei Flügeln, die mit Eisen verstärkt waren, ragte vor Eadulf auf. Das Tor war zugesperrt. Genau oberhalb davon zog sich eine Reihe von Fenstern die Mauer entlang.

Eadulf blieb stehen und untersuchte das Gemäuer. Es schien keine Glocke zu geben, mit der sich Besucher ankündigen konnten, wie es in Klöstern üblich war. Er ging auf das Tor zu und wollte schon mit seinem Stock dagegenklopfen, da öffnete es sich plötzlich nach innen. Ein Mann stand vor ihm, der von Kopf bis Fuß in ein graues Gewand gehüllt war. Sein Gesicht war völlig von einer Kapuze bedeckt.

»Willkommen, Bruder. Willkommen in Uamans Turm«, verkündete er mit hoher, fast singender Stimme.

Eadulf starrte die unerwartete Erscheinung überrascht an. Das entging der graugekleideten Gestalt nicht, und Eadulf konnte ein leises, hohles Lachen hören.

»Sei nicht überrascht, Bruder, aber ich habe dich schon gesehen, als du noch am anderen Ufer warst. Mir ist aufgefallen, daß du mit viel Vorsicht und einigem Geschick den Weg zum Turm hinübergelaufen bist.«

»Ich wußte, daß der Weg viele Tücken hat.«

»Dennoch hast du die Gefahren des Meeres und des Sandes nicht gescheut. Du mußt einen triftigen Grund für deinen Besuch haben.«

»Ich möchte mit Uaman sprechen ... Uaman, der hier der Herr ist.«

Die Gestalt hob eine ungewöhnlich weiße, knöcherne Hand und winkte ihn herein.

»Ich bin Uaman, Herr der Bergpässe des Sliabh Mis«, sagte er mit hoher Stimme. »Willkommen in meiner Festung. Tritt nur ein, dein Besuch möge für dich so angenehm sein wie für mich.«

Eadulf zögerte einen Augenblick, er wollte die Ängste nicht zulassen, die erneut in ihm aufstiegen. Dann trat er zwischen den schweren Eichentüren hindurch, die sofort wieder hinter ihm zufielen, und blickte sich um. Das Tor schien sich wie von selbst zu schließen; in den dicken Mauern mußte sich ein besonderer Schließmechanismus befinden.

Uaman lachte schrill, als er bemerkte, wie nervös sein Gast war.

»Außerhalb dieser Mauern gibt es viele, die mir nicht wohlgesonnen sind, mein Freund. Du trägst die Tonsur Roms und nicht die der fünf Königreiche. Wie heißt du?«

»Ich bin Eadulf von Seaxmund’s Ham.«

Stille trat ein. Eadulf wurde klar, daß sein Name der gebeugten Gestalt etwas sagte. Ein langer, zischender Laut drang zwischen den Falten der Kapuze hervor. Eadulf hatte das Gefühl, daß kalte starre Augen auf ihn gerichtet waren.

»Eadulf!« Die Stimme klang plötzlich weich und geradezu bedrohlich. »Natürlich. Eadulf von Seax-mund’s Ham. Du bist der Ehemann einer Eoghanacht von Cashel.«

»Ich bin mit friedlichen Absichten gekommen«, beeilte sich Eadulf zu erklären. »Ich bin nicht an deinen Streitigkeiten mit Colgu von Cashel interessiert.«

»Wenn du mit friedlichen Absichten gekommen bist, Bruder Eadulf, so wirst du auch friedlich empfangen. Doch scheinst du zu wissen, daß ich zu den Ui Fidgente gehöre. Was willst du von mir?«

»Ich bin nach Westen aufgebrochen, weil ich jemanden suche, und du hast unwissentlich damit zu tun.«

Wieder lachte der Mann. »Unwissentlich damit zu tun?« sagte er, als fände er das besonders amüsant. »Das ist hübsch formuliert. Nun, Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham, komm mit in meine Räume, und wir werden uns darüber unterhalten.«

Eadulf wollte sich der Gestalt nähern, doch da holte die weiße Skeletthand plötzlich eine Glocke aus den Falten des Umhangs hervor und läutete warnend.

»Salach! Salach! Unrein!« fistelte er. Eadulf blieb sofort stehen. »Ein wenig Abstand bitte, sächsischer Bruder.« Jetzt hatte Uaman seine Stimme wieder besser im Griff. »Ich leide an jener Krankheit, die das Fleisch zerfrißt und faulen läßt.«

»Die Lepra?« fragte Eadulf erschrocken. Bis zu diesem Augenblick hatte Eadulf nicht geahnt, wie fortgeschritten Uamans Leiden war.

Die gebeugte Gestalt stieß ein schauderhaftes Lachen aus. Dann humpelte sie voran. Eadulf fiel auf, daß Uaman einen Fuß nachzog, als sei er steif. Er trat durch eine kleine Tür in der Mauer und stieg eine Treppe hinauf, die zu einem Wehrgang auf der Höhe der vielen Fenster führte. Mehrere dunkelgekleidete Krieger standen hier im Schatten der Fenster und hielten offensichtlich Wache. Er blickte in häßliche vernarbte Gesichter, ein Einäugiger war auch darunter.

Der Aussätzige führte ihn selbstsicher den Wehrgang entlang.

»Mach dir nicht die Mühe zu zählen, wie viele Fenster es sind. Es sind siebenundzwanzig, so vermag ich gut die Sterne zu betrachten, die einem viel Wissen und Macht verleihen können.«

Eadulf runzelte die Stirn. Uaman bezog sich auf eine alte heidnische Lehre, doch er wußte nicht genau, was das zu bedeuten hatte.