»Bist du kein Christ?« wollte er wissen.
Der Herr der Bergpässe lachte auf. »Gibt es denn nur einen wahren Glauben, mein Freund? Nur einen einzigen Glauben anzuerkennen heißt, keinen anderen gelten zu lassen.«
»Der Glaube ist die Wahrheit«, erwiderte Eadulf.
»Ach, wenn die Wirklichkeit und die Hoffnung tot sind, wird der Glaube geboren. Wenn du an alle Dinge glaubst, sächsischer Bruder, wirst du nicht enttäuscht werden.«
Uaman blieb vor einer Tür stehen und öffnete sie. Er winkte Eadulf zu sich in einen Gang, der ins Innere führte. Sie kamen in einen gutausgestatteten Raum, dessen Wände mit poliertem rotem Eibenholz getäfelt und mit Wandbehängen in herrlichen Farben geschmückt waren. Der Aussätzige deutete auf eine Sitzbank.
»Nimm Platz, sächsischer Bruder, und erkläre mir den Grund für deinen Besuch. Von welcher Suche hast du gesprochen?«
Uaman setzte sich ihm gegenüber an den offenen Kamin, in dem Holz glühte. Die Kapuze hatte er aufbehalten, und Eadulf konnte seine Gesichtszüge nicht erkennen. Alles, was er sah, war das weiße Fleisch seiner klauenartigen Hand.
»Uaman, ich bin auf der Insel, weil ich mein Kind suche. Ich bin hier wegen Alchu.«
»Wie kommst du darauf, daß ich dir dabei behilflich sein könnte?«
Eadulf beugte sich vor. »Wir hatten das Baby in die Obhut seiner Amme gegeben. Sie ist ermordet worden. Sie oder jemand anderes hat das Kind im Wald sich selbst überlassen, wo ein umherziehender Kräutersammler und dessen Frau es fanden. Die beiden dachten, man hätte Alchu ausgesetzt. Sie nahmen ihn mit und trafen hier in dieser Gegend auf dich. Du hast ihnen das Kind abgekauft. Mir ist klar, daß du nicht wissen konntest, wer es ist. Du wolltest einfach nur helfen. Aber wo befindet sich mein Sohn jetzt? Ich werde dir die Summe zurückzahlen, die du dem Kräutersammler gegeben hast, aber ich muß das Kind zurück nach Cashel bringen.«
Die Schultern des Aussätzigen bewegten sich. Zuerst glaubte Eadulf, er hätte einen Hustenanfall. Doch dann merkte er, daß er lachte.
»Für dich, Eadulf von Seaxmund’s Ham, ist das Kind tot«, sagte Uaman schließlich. »Für dich und dein Weib von den Eoghanacht ist es tot.«
Eadulf wollte aufspringen, doch da spürte er in seinem Nacken spitzes, kaltes Metall. Einer von Uamans Wachleuten mußte unbemerkt eingetreten sein und ihm sein Schwert oder Messer an den Hals gesetzt haben.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte er. Ihm war klar, daß diese Frage überflüssig war. Alle seine bösen Vorahnungen hatten sich bestätigt. Tief in seinem Inneren wußte er, daß es reichlich tollkühn gewesen war, auf die Insel zu kommen.
»Das bedeutet, daß sich das Schicksal mir gnädig erwiesen hat, Eadulf von Seaxmund’s Ham. In den letzten beiden Jahren haben du und dein Weib in den fünf Königreichen ziemlich an Ansehen gewonnen. Welch unglückseliger Tag, als du damals von jenem Schiff aus Gallien geholt wurdest und als unser Gefangener in den Minen von Beara schuften mußtest, ehe wir Colgu angriffen.«
Eadulf schalt sich selbst einen Narren. Also auch darüber wußte Uaman Bescheid.
»Sind wir uns schon einmal begegnet?« fragte er.
»Du kanntest Torcan von den Ui Fidgente.«
»Er hat versucht, mich umzubringen, aber er wurde von Fürst Adnar erschlagen, der zu Cashel hielt.«
»Torcan war mein Bruder«, erwiderte Uaman kalt.
Das hatte Eadulf nicht gewußt. »Torcan war also ein Sohn Eoganans?«
»So ist es«, sagte Uaman. »Einer von Eoganans Söhnen wurde von Colgu in der Schlacht bei Cnoc Äine getötet.«
»Um bei der Wahrheit zu bleiben, es war Eoganan, dein Vater, der seinen Clan zum Kampf gegen Colgu aufwiegelte und den dann das gerechte Schicksal solcher Aufwiegler ereilte. Wer das Schwert gegen einen Prinzen erhebt, der kann auch gleich die Scheide wegwerfen.«
»Ist das ein sächsischer Grundsatz?« höhnte Uaman.
»Woher wußtest du, daß das Baby, das der Kräutersammler und seine Frau mit sich führten, das Kind von Fidelma und mir war? Ich selbst erfuhr es erst, als ich die beiden bei der Abtei von Colman antraf.«
»In diesem Land verbreiten sich Neuigkeiten schnell. Die Ui Fidgente haben immer noch treue Anhänger. Kräfte, die offenbar rascher reagieren als die große ddlaigh, deine Frau. Ein dem Hof von Cashel Nahestehender teilte einem meiner Boten mit, daß das Kind verschwunden sei und es sich möglicherweise bei dem Kräutersammler und seiner Frau aufhielt.«
Eadulf war überrascht. »Ein Verräter? In Cashel?«
»Nein, mein sächsischer Freund, kein Verräter, sondern ein Patriot der Ui Fidgente«, sagte Uaman zufrieden.
»Wo also ist mein Sohn?« fragte Eadulf unwirsch.
»Du meinst den Sohn der Eoghanacht, die unseren Plan zur Machtübernahme vereitelt haben? Nun, aus ihm wird nie ein Prinz der Eoghanacht werden.«
Eadulf wollte wieder aufspringen, aber das scharfe Metall, das nun gegen seine Gurgel drückte, hielt ihn zurück.
»Du Schwein! Du hast ihn ermordet!« rief er hilflos.
Wieder lachte Uaman schrill.
»Aber nein, mein armer Freund. Er wurde nicht ermordet. Viel schlimmer!«
Eadulf sah ihn verwirrt an, und der Aussätzige fuhr fort zu lachen.
»Er wird leben, das ist gewiß. Aber er wird nie seinen Vater und seine Mutter kennenlernen oder den Stammbaum, in dessen Erbfolge er steht. Er wird, wenn er überhaupt so lange am Leben bleibt, ein einfacher Schäfer werden, der seine Schafe in dem Gebirge hütet, in dem die Tochter von Daire Donn umgeht. Und dein Sohn wird einen Namen tragen, der meine Rache an deinem Volk symbolisiert. Das ist sein Schicksal. Er wird gerade von Bauersleuten gefüttert, die seine Herkunft nicht kennen und glauben, er sei ein Geschenk von mir, das die Leere in ihrem sinnlosen und kinderlosen Leben füllt.«
»Du verfaulender Lump ...«, fuhr ihn Eadulf wütend an, diesmal aber bohrte sich die Klinge in seinen Hals, und Blut rann daran herab.
Uaman schien das sehr zu erheitern.
»Ja, ich bin ein iobaid, einer der verfault und verwest, weil diese böse Krankheit mich heimgesucht hat.
Das war nicht immer so. Ich war einst die rechte Hand meines Vaters, sein Berater, und mein Bruder Torcan war sein Tanist. Bei Cnoc Äine wurde hart gefochten. Nach dem Tod meines Vaters floh ich vom Schlachtfeld. Kurz darauf zeigten sich die ersten Anzeichen der Lepra an meinem Körper. Mir wurde klar, daß mich die Alten für mein Versagen verflucht hatten und daß nur kalte Rache diesen Fluch von mir nehmen könnte.«
Eadulf holte rasch Luft. »Das ist doch Unsinn!«
»Cashel wird leiden. Ich werde es leiden lassen. Das Leiden hat schon begonnen.«
»Also steckst du hinter der Ermordung der Amme?«
»Das war purer Zufall. Ich hörte davon, daß sie tot und Fidelmas Kind verschwunden war. Rein zufällig teilte mir ein treuer Anhänger mit, daß der Kräutersammler und seine Frau das Kind im Wald gefunden hatten. Er ließ mir eine Botschaft zukommen. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich konnte auch nicht glauben, daß sie so geldgierig waren. Sie fragten mich nicht einmal, wer ich sei, als ich ihnen Geld für das Baby anbot. Ach, der Mensch ist schwach. Das ist mein Glaube, mein sächsischer Freund. Ich glaube an die Schwäche der Menschen.«
Eadulf blickte ihn düster an.
»Willst du mir damit sagen, daß du nichts mit der Ermordung der Amme zu tun hast? Daß du das nicht von Anfang an alles geplant hattest?«
Wieder bewegten sich die Schultern des Aussätzigen und verrieten, daß er lachte.
»In der Zeit, die dir noch bleibt, kannst du über all diese Dinge nachgrübeln, Bruder Eadulf von Seax-mund’s Ham«, sprach er. »Und das ist leider Gottes nicht sehr lange. Du hast bis zum Einsetzen der Flut Zeit, dann findet dein Leben auf Erden ein Ende.«
Die weiße Klaue entließ ihn mit einem Wink. Eadulf wurde von derben Händen gepackt und von der Sitzbank gezogen. Sich zu wehren war sinnlos, gegen zwei Männer konnte er nichts ausrichten. Man schleifte ihn durch dunkle graue Gänge. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er wollte begreifen, was er da eben gehört hatte. Dann stieß man ihn in den Wehrgang der Festung. Auf einmal befand er sich in einem geraden Flur, der zu einem viereckigen Gebäude neben dem Turm führte. Er wurde eine Wendeltreppe hinuntergezerrt, bis er an einer Steinplatte stand, neben der ein Loch gähnte, aus dem eine Leiter hervorschaute. Einer der Krieger wollte ihm einen Stoß versetzen.