Eadulf nickte. »Ich danke dir jedenfalls für das, was du getan hast, wenn auch dieser Dank vielleicht nicht viel Wert ist. Und danach sieht es aus. Haben unsere Feinde erst einmal entdeckt, daß ich nicht ertrunken bin, werden sie sicher hier auftauchen. Dennoch vielen Dank für den Aufschub.« Er streckte die Hand aus. Der dunkle Mann schlug ein. Sein Händedruck war warm und fest. »Mein Name ist Eadulf von Seax-mund’s Ham.«
Der andere zog ein wenig die Augenbrauen hoch. »Ein Sachse? Aus dem Land des Südvolks?«
Eadulf nickte.
»Dann bist du wahrlich recht weit von deiner Heimat entfernt, mein Freund.« Sein Gefährte lächelte.
»Du bist es noch mehr«, stellte Eadulf fest.
Der Mann lachte laut auf.
»Verzeih mir, mein Freund. Ich heiße Basil Nesto-rios.«
»Woher kommst du?«
»Aus Jundishapur, unweit von Bagdad, ich bin Heiler und Arzt.«
»Dieses Land kenne ich nicht«, sagte Eadulf.
»Ah, es ist eine Stadt, mein Freund, im Königreich Persien. Das Hospital und die Hochschule von Jundis-hapur sind führend auf dem Gebiet der Medizin und der Wissenschaften. Weißt du denn nicht, daß man in aller Welt an die Höfe der großen Könige Ärzte aus Jundishapur ruft? Dort studieren Gelehrte aller Völker.«
Eadulf lächelte ein wenig über den Stolz in der Stimme des anderen.
»Persien liegt sehr weit weg von hier, Basil Nesto-rios.«
»Das bezweifle ich nicht, denn ich habe ja den ganzen Weg selbst zurückgelegt. Es war eine lange Reise, die nun auf diese Weise zu Ende gehen soll ...« Er zeigte voller Verachtung auf die Mauern. Dann sah er Eadulf an. »Was machst du hier, und warum wurdest du von dem Bösen eingekerkert?«
»Von dem Bösen?« fragte Eadulf.
»Von dem Leprakranken mit dem unausprechli-chen Namen.«
»Uaman?«
»Genau der.«
Eadulf erzählte ihm in Kürze seine Geschichte. Der Arzt aus Jundishapur nickte traurig. »Er ist in der Tat eine Verkörperung des Bösen.«
Eadulf vergaß für einen Moment seine ausweglose Situation.
»Bist du nicht mit einem Bruder aus Ard Macha unterwegs gewesen und vor kurzem durch Cashel gekommen? Mit Bruder Tanaide? In der Abtei von Imleach hat man, wie ich mich jetzt erinnere, eure Namen erwähnt.«
»Das stimmt«, erklärte ihm Basil Nestorios. »Ich bin in dieses Land gekommen, um die Kulturen und Religionen am westlichen Rand der Welt zu studieren. Durch Fürsprache eines Bischofs in Gallien wurde ich mit dem Bischof in Fearna bekannt, das ist die Hauptstadt vom Königreich Laigin.«
Fearna hatte Eadulf noch in lebhafter Erinnerung. Dort hatte er beinahe sein Leben verloren. Er seufzte, als er daran dachte, wie ihn Fidelma gerettet hatte.
»Was geschah dann?« sagte er.
»Jener Bischof gab mir Bruder Tanaide als Führer und Dolmetscher zur Seite. Als man herausfand, daß ich Arzt bin, baten mich der Bischof und der König von Laigin, doch eine Weile zu bleiben und meine Kunst auszuüben. Ich schätze, daß der Böse irgendwie von meinen Heilkünsten gehört hat ...«
»Uaman?«
»Der Name ist für meine Zunge sehr schwierig. UUU-ermon? Wird er so ausgesprochen?«
Eadulf lächelte ermunternd. »Schon ganz gut«, versicherte er ihm. »Und du meinst, daß Uaman in Laigin von dir gehört hat?«
»Ja, mein Freund. Er hat mich wissen lassen, daß er eine große Geldsumme zahlen würde, wenn ich ihn von seinem Leiden erlösen könnte. In Jundishapur wissen wir sehr viel über die Krankheit, die zu Hautwunden, Entstellungen und Verlust der Gefühlsempfindungen in den Extremitäten führt. Wir behandeln Lepra auf verschiedene Weise, und ich habe eine Kiste mit unseren Medikamenten mitgebracht.«
Trotz ihrer beider betrüblicher Lage lauschte ihm Eadulf mit großem Interesse. »Ich habe auch ein wenig die Heilkunst studiert, aber ich bin bei weitem kein Arzt. Hier behandelt man diese Krankheit, indem man die Blätter der großen Klette im Mörser zerstößt und in Wein tut und das dem Kranken verabreicht.«
Basil Nestorios lächelte. »In meiner Heimat gibt es ein Kraut namens gotu kala ... Das kann man sowohl äußerlich als auch innerlich anwenden. Es ist ein altes Mittel zur Heilung von Lepra und anderen Wunden. Ich habe etwas davon bei mir.«
»Du bist hier also auf Uamans Bitte zusammen mit Bruder Tanaide eingetroffen?«
Basil Nestorios senkte den Kopf. »Verflucht sei der Tag, als ich das Gebirge überquerte und hierherkam.«
»Wo ist Bruder Tanaide denn jetzt? In einer anderen Zelle?«
Basil Nestorios schüttelte den Kopf.
»Der Böse hat ihn töten lassen.« In seiner Stimme schwangen Wut und Trauer mit.
Eadulf lief ein Schauer über den Rücken.
»Einer seiner Krieger hat einfach sein Schwert in ihn gerammt und ihn oben vom Turm ins Meer geworfen. Er war schon tot, als er ins Wasser eintauchte«, fuhr Basil Nestorios fort.
»Aber warum nur? Warum, wo du ihn doch heilen solltest? Warum ließ er deinen Begleiter ermorden und dich einsperren? Das begreife ich nicht.«
»Du mußt Folgendes wissen. Der Zerfall seiner Haut spiegelt den Zerfall seiner Seele wider. Er ist durch und durch böse. Er verfügt über keinerlei Wesenszüge, die ihm Erlösung bringen könnten.«
»Also hat er dich nur am Leben gelassen, damit du ihn kurierst? Behandelst du ihn denn?«
»Ich verlängere mein Leben, das ist alles. Zweimal am Tag werde ich aus der Zelle geholt, um ihm die Medizin zuzubereiten und sie ihm dann zu verabreichen. Soweit ich das beurteilen kann, ist seine Krankheit nicht mehr heilbar, sowohl was seinen Körper betrifft als auch seine schwarze Seele, die ihn ständig auf Rache sinnen läßt an jedem, der sich ihm in den Weg stellt.«
Eadulf rieb sich nachdenklich das Kinn. »Zweimal am Tag? Wann ist das?«
»Dir fällt gerade etwas ein, mein Freund. Was ist es?«
»Ist dir nie in den Sinn gekommen, deine Fähigkeiten für deine Flucht zu nutzen?«
»Ich bin mir nicht sicher, was du meinst.«
»Ganz einfach. Was heilen kann, kann auch töten.«
Basil Nestorios schreckte zurück. »In meiner Kultur, mein Freund, darf ein Arzt niemandem etwas zuleide tun. Vor vielen Jahrhunderten lebte auf der Insel Kos ein Arzt namens Hippokrates, der als Vater der Heilkunst gilt. Er ließ seine Schüler einen Eid leisten, niemals ihr Wissen gegen den Menschen einzusetzen. Wir leisten diesen Eid in Jundishapur bis heute.«
»Also würdest du lieber unter ihm leiden und ihm gestatten, viele andere unschuldige Menschen zugrunde zu richten, anstatt es zu verhindern?«
Basil Nestorios hob hilflos die Hände.
»Was bleibt mir anders übrig? Dieser Eid gilt immer und überall.«
»Wann wirst du zur nächsten Behandlung geholt?« fragte Eadulf noch einmal.
Der Arzt blickte aus dem Fenster, um festzustellen, wie spät es war. Der Himmel wurde schon dunkel, zu dieser Jahreszeit hieß das, daß es Nachmittag war.
»Bald wird die Flut einsetzen. Der Wächter kann jederzeit hier auftauchen. Ich habe mehrere Tage lang überprüft, ob sie die Zeiten einhalten.«
»Wenn du Uaman nicht vergiften willst, kannst du ihm doch zumindest einen Trank verabreichen, der ihn bewußtlos macht, oder?«
»Das könnte ich tun. Aber es dauert eine Weile, bis der Trank Wirkung zeigt. Bis dahin hat man mich längst wieder hier eingesperrt. Was dann?«
»Ich werde hinter der Tür stehen, wenn der Krieger dich zurückschafft. Bring ihn dazu, die Zelle zu betreten ... Ich weiß ... Ich werde den Stein sichtbar vor der Pritsche liegen lassen, und falls er ihn noch immer nicht sieht, mußt du ihn darauf aufmerksam machen. Dann kann ich ihn von hinten anfallen.«