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»Möglicherweise ist der Trank auch bis dahin wirkungslos geblieben«, erklärte Basil Nestorios. Zögernd sagte er schließlich: »Ich könnte die Dosis erhöhen. Wenn ich darüber nachdenke, ist es besser, sobald wie möglich von hier zu verschwinden.« Er seufzte verärgert. »Doch wenn die Wache kommt und mich zur Behandlung abholt, werden sie dich entdecken.«

Eadulf schüttelte den Kopf und zeigte zum Tunnel.

»Ich werde dort hineinkriechen und die Steinplatte nur locker darüberschieben, so daß ich mich mit den Händen am Rand der Öffnung festhalten kann. Meine Beine werden dann in meine Zelle hinabbaumeln. Deine Pritsche steht über der Platte und der Wächter wird mit ein wenig Glück nicht erkennen, daß sie nicht richtig liegt.«

Basil Nestorios machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Das könnte klappen. Doch selbst wenn wir mit dem einen Krieger fertig werden, so heißt das noch nicht, daß wir den anderen fünf entkommen können.«

»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte Eadulf. »Wie willst du Uaman bewußtlos machen? Hast du etwas gafann?«

Der Arzt schaute verwirrt drein, denn Eadulf war nur der Begriff eingefallen, den man in den fünf Königreichen benutzte.

»Henbane«, sagte Eadulf nun, während er versuchte, sich an das lateinische Wort zu erinnern. »Mandragora«, meinte er schließlich, denn er wußte, daß die Pflanze mit der Alraune verwandt war. »Das würde ich verwenden. Ein verdünnter Aufguß bewirkt den Verlust der Stimme und führt zu Lähmungserscheinungen.«

Basil Nestorios lächelte zustimmend.

»Mein Freund, du weißt ja gut Bescheid. Wenn wir keine Alternative hätten, wäre das eine gute Wahl. Doch ich habe unter meinen Heilmitteln den Extrakt einer Pflanze, die in einigen Teilen meines Landes wächst und papaver genannt wird. Sie wirkt viel schneller und stärker. Es ist eine weiße Mohnart, und wir verwenden sie in Jundishapur als Narkotikum und auch gegen Schmerzen, und manchmal, um uns zu berauschen. Aber in hohen Dosen kann sie gefährlich sein.«

»Weißer Mohn?« fragte Eadulf nach. Der war ihm unbekannt.

»Wir schneiden in die Samenkapsel ein, die gleich nach der Blüte zu reifen beginnt. Aus diesen Einschnitten tritt ein dickflüssiger Saft aus, den wir abnehmen und trocknen. Daraus gewinnen wir unseren Heiltrank, der den Verstand des Bösen trüben und ihn einschläfern wird. Dazu bin ich bereit, aber mehr als das werde ich ihm nicht antun.«

Eadulf zuckte mit den Achseln. »Nun, das ist besser als gar nichts. Bist du sicher, daß sich nicht mehr als sechs Krieger in der Festung befinden?«

»Ja, das bin ich. Ich habe nur sechs gesehen.«

Eadulf blickte sich um. »Wo befindet sich deine Kiste mit der Medizin?«

»Der Böse bewacht sie. Er vertraut mir nicht. Die Kiste steht in dem Raum, in dem ich ihn behandle.«

Eadulf schaute aus dem Fenster nach dem Himmel und dem Stand der Gezeiten.

»Wir sollten uns bereithalten, Basil Nestorios«, meinte er.

Der Arzt nickte. »Wollen wir hoffen, daß wir nicht von den Göttern geliebt werden«, murmelte er vor sich hin.

Eadulf sah ihn neugierig an.

Der Arzt schenkte ihm ein Lächeln. »In meinem Land gibt es das Sprichwort - hon hoi theoi philousi npothneskei neos - jene, die von den Götter geliebt werden, sterben jung.«

Eadulf kroch unter die Pritsche.

»Vielleicht hält man uns für nicht mehr ganz so jung«, erwiderte er, ehe er sich in das Loch zwängte.

Der Arzt wartete ein wenig und schob die Steinplatte darüber. Dann ließ er sich auf der Pritsche nieder.

»Ist alles in Ordnung mit dir, mein Freund?« flüsterte er.

»Meine Arme fangen an zu schmerzen«, antwortete Eadulf. »Ein Jammer, daß der Tunnel in einem solchen Winkel verläuft. Wäre er waagerecht, brauchte ich die Arme nicht so zu belasten.«

»Hoffen wir, daß der Wächter bald kommt.«

»Sch ... Ich glaube .«

Eadulf konnte vernehmen, wie die Riegel zurückgeschoben wurden. Als sich die Tür nach innen öffnete, hörte er Metall aufeinanderstoßen. Eine Stimme rief: »Komm mit!« Basil Nestorios stand auf und ging zur Tür. Kurz darauf wurde die Tür wieder zugeschlagen, und die Riegel wurden vorgelegt.

Eadulf wartete einen Augenblick, ehe er sich aus dem Loch schob. Er stieß die Steinplatte zur Seite, die glücklicherweise nicht sehr schwer war, und kroch unter der Pritsche hervor. Als erstes wollte er probieren, ob die Tür aufging. Wie erwartet, war sie von außen versperrt. Sonst wäre er hinausgeschlüpft und hätte den Krieger davor hinterrücks angefallen.

Doch so konnte er nur abwarten.

Kapitel 15

Eadulf döste vor sich hin. Er war fast eingeschlafen, da vernahm er auf dem Gang ein Geräusch. Er sprang auf und preßte sich an die Wand hinter der Tür. Er schaute zu der Stelle, wo die Steinplatte lag. Von der Tür aus konnte man sie gut sehen. Die Riegel wurden zurückgeschoben. Er wünschte, er hätte irgendeine Waffe, aber er hatte nichts Geeignetes finden können.

Die Tür ging auf. Eine rauhe Stimme sagte: »Rein mit dir. Dein Essen kriegst du später.«

Eadulf wartete darauf, daß der Krieger in die Zelle trat. War er denn blind? Warum sah er die verschobene Steinplatte nicht? Dann hörte er, wie Basil Nestorios auf Griechisch losredete.

»Still!« murrte der Wächter. »Dein heidnisches Geschwätz verstehe ich sowieso nicht, und .«

Er verstummte. Wahrscheinlich zeigte Basil Nesto-rios nun auf die Platte, um den Krieger in die Zelle locken. Es funktionierte. Eadulf hörte, wie der riesige Krieger in die Zelle kam.

Eadulf sprang ihn von hinten an, packte ihn mit beiden Händen am Hals und würgte ihn. Der Krieger versuchte, Eadulfs Griff zu lösen. Doch Eadulf klammerte sich mit der Kraft der Verzweiflung an ihn und ließ nicht locker. Er mußte erreichen, daß er bewußtlos wurde. Es schien aussichtslos. Der Krieger war zu stark und wehrte sich heftig. Er wollte ihn abschütteln. Als Eadulf bereits aufgeben wollte, erschlaffte der Krieger auf einmal und fiel zu Boden. Eadulf stürzte mit ihm und lockerte seinen Griff erst, als er sicher war, daß sich der Mann nicht nur verstellte. Erst dann sprang er auf, schlug von außen die Tür zu und schob die Riegel vor. Er lehnte sich gegen die Tür und holte tief Luft. Nun sah er den Arzt an.

»Wie ist es bei Uaman gelaufen?« flüsterte er.

»Das weiß ich nicht genau«, erwiderte Basil Nestorios. »Ich habe die Mixtur zubereitet und ihm erklärt, daß sie zu seiner Behandlung gehöre. Sollte er sie wirklich genommen haben, wirkt sie bestimmt schon.«

Eadulf war entsetzt. »Willst du damit sagen, du hast nicht gesehen, ob er das Zeug auch getrunken hat?«

Basil Nestorios schüttelte den Kopf. »Der Böse befahl dem Wächter sogleich, mich zurück in die Zelle zu bringen. Ich habe die Mixtur bei ihm stehenlassen.«

Eadulf stöhnte leise. »Dann können wir nicht sicher sein, daß Uaman wirklich außer Gefecht ist. Wir müssen sofort von hier weg.«

»Aber meine Arzneikiste, meine Satteltaschen . Sie befinden sich immer noch bei ihm.«

»Die müssen wir erst einmal dortlassen. Ich werde keine Zeit verschwenden und in Uamans Räume schleichen, um festzustellen, ob er schläft, und sie dann holen. Das Gepäck würde uns sowieso nur behindern.«

Basil Nestorios wollte ihm schon widersprechen, doch dann leuchtete ihm das ein.

»Wohin nun, mein sächsischer Freund?«

Eadulf sah sich um. Der Gang, an dem die Zelle lag, verlief wahrscheinlich wie die anderen, die er gesehen hatte, kreisförmig um die äußere Mauer. Über ihnen mußte das Stockwerk mit den vielen Fenstern sein. Sie befanden sich wohl zu ebener Erde.

»Wenn wir diesen Gang entlanglaufen, müßten wir zu dem Innenhof am Tor gelangen. Sollten wir das Tor unbemerkt erreichen und aus der Festung herauskommen, steht das Wasser bestimmt noch nicht so hoch, daß wir nicht mehr zum Festland hinüberkönnen.«