»Der Treibsand!« murmelte Gorman.
Der tückische Sand hielt Uaman schon bis zur Taille gefangen. Mit panischen Bewegungen versuchte er, herauszukommen. Eadulf wollte zu ihm eilen, doch Gorman hielt ihn zurück.
»Du kannst ihm nicht helfen«, erklärte er ihm.
Eadulf war außer sich.
»Begreifst du denn nicht, begreifst du denn nicht ...? Er ist doch der einzige, der weiß, wo sich Alchu aufhält. Der einzige, der mich zu meinem Sohn führen kann.«
Wieder wollte er loslaufen, aber die erbarmungslose Flut drängte weiter aufs Land zu, und Uaman war schon bis zur Brust im Sand versunken.
»Uaman!« rief Eadulf verzweifelt und lief so nah ans Wasser, wie er nur konnte. »Wo ist mein Baby? Wo ist Alchu?«
Uamans Kapuze war nach hinten gefallen und hatte einen weißen, kahlen Schädel enthüllt. Im flackernden Fackelschein konnten sie sehen, wie sich die Lepra in sein Fleisch gefressen hatte.
»Verflucht sollen du und die Eoghanacht sein! Möget ihr euren Balg nie wiedersehen. Möget ihr vor lauter Kummer und Gram sterben. Mögen die Katzen euer Fleisch fressen. Möget ihr verfaulen in euren Gräbern ... Der Tod soll auf euch kommen!«
Da kehrte die Flutwelle zurück. Die Fackel verlosch. Uaman verstummte. Nur das rauschende schwarze Wasser war an der Stelle zu sehen, wo er den Tod im Treibsand fand.
»»Es korakes!« brummte Basil Nestorios zufrieden. »Zur Hölle mit ihm.«
Eadulf ließ sich in den Sand fallen und wiegte den Kopf in den Händen.
Der Alptraum war so wirklich.
Mit langsamen Schritten traten die Mönche aus der bronzebeschlagenen Eichentür der Kapelle heraus in das kalte graue Licht des Mittelhofs der Abtei. Es war ein großer Hof, mit dunklen Granitplatten ausgelegt, auf allen vier Seiten erhoben sich die hohen, freudlosen Steinmauern der Abteigebäude und ließen den Innenraum kleiner erscheinen, als er in Wirklichkeit war.
Die Reihe der kapuzetragenden Mönche, an der Spitze ein Bruder mit einem reichverzierten Metallkreuz, bewegte sich in gemessenem Schritt und mit gesenkten Köpfen. Sie hatten die Hände in den Falten der Kutten verborgen und sangen einen lateinischen Psalm. In kurzem Abstand hinter ihnen kam eine ähnliche Zahl von kapuzetragenden Nonnen, die ebenfalls die Köpfe gesenkt hielten und die Oberstimme des Psalms sangen. Das Echo in dem engen Raum erzeugte einen grausigen Effekt.
Sie stellten sich an zwei Seiten des Hofes auf, mit dem Gesicht zu einer hölzernen Plattform, auf der eine seltsame dreieckige Konstruktion aus aufrechten Pfählen errichtet war, die ein Dreieck von Balken trugen. An einem Balken hing ein Seil mit einer Schlaufe. Dicht unter die Schlaufe hatte man einen dreibeinigen Schemel gestellt. Neben dieser düsteren Vorrichtung stand breitbeinig ein hochgewachsener Mann. Er war bis zum Gürtel nackt und hielt die starken, muskulösen Arme über der breiten, behaarten Brust gekreuzt. Regungslos starrte er auf die Prozession von Mönchen und Nonnen, ungerührt und ohne Scheu vor der Arbeit, die er auf dieser makabren Plattform verrichten sollte.
Vor dem Podest kniete Fidelma, die von zwei teuflisch grinsenden Frauen festgehalten wurde. Ihr Instinkt sagte ihr, daß eine davon Äbtissin Ita von Kil-dare war, jene, die dafür gesorgt hatte, daß sie damals das Kloster verlassen hatte, die andere war Äbtissin Fainder, das böse Oberhaupt der Abtei von Fearna. Sie hielten sie fest im Griff, und obwohl sich Fidelma wehrte, konnte sie sich nicht bewegen. Sie war gezwungen, zu den finsteren Aufbauten und dem Henker hinaufzublicken.
Dann traten zwei kräftige Mönche vor, sie zogen einen Mann mit sich. Auch er mußte vor dem Podest niederknien.
»Eadulf!« rief Fidelma, als sie ihn erkannte. Aber seine Bewacher hielten ihn so fest, daß er sie nicht einmal anschauen konnte.
Nun trat ein dritter Mann mit einem Baby auf den Armen vor. Er übergab das Kind dem Henker, der sich auf die Schlinge zubewegte.
»Tu etwas, Eadulf! Um Himmels willen, tu etwas!«
Fidelma schrie im Traum. Plötzlich wurde sie wach, sie stöhnte und wehrte sich gegen die Fesseln, die sie immer noch an Händen und Füßen hatte. Sie war schweißgebadet.
Durch das Fenster fiel graues Licht herein. Fidelma versuchte, zu sich zu kommen. Sie wünschte, sie könnte sich den Schweiß vom Gesicht wischen.
Da drang das leise Wiehern eines Pferdes an ihr Ohr.
Sie nahm an, daß es aus dem Stall kam. Im unteren Geschoß rührte sich etwas, jemand murmelte. Warum flüsterten die Ui Fidgente? Sie drehte sich so, daß sie besser hören konnte.
Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sollte Colgu etwa herausgefunden haben, daß sie irgendwo festgehalten wurde, und war ihrer Spur bis zur Jagdhütte gefolgt? War da draußen jemand, der sie retten kam? Rasch murmelte sie ein Gebet und wünschte sich, daß es so wäre.
Dann vernahm sie ein Geräusch, und die Tür unten knarrte. Sie konnte Cuans schroffe Stimme hören.
»Es muß irgendein wildes Tier gewesen sein, das die Pferde unruhig gemacht hat. Ich kann niemanden sehen.«
Verzweiflung kam wieder über sie. Eben noch war sie so voller Hoffnung gewesen. Nun vernahm sie unten Gelächter.
»Wir sollten uns besser aus dem Staub machen. Jetzt sucht noch keiner nach uns. Wir nehmen die Frau mit und kehren in unser Land zurück.«
»Ich werde die Pferde satteln«, erwiderte eine andere Stimme. »Crond soll die Frau herschaffen.«
Nun hörte Fidelma noch etwas anderes. Es war wie ein leises Kratzen auf dem Dach über ihr. Unten wurde die Tür der Jagdhütte geöffnet, dann stieß jemand einen gequälten Schrei aus und stürzte offenbar zu Boden.
Cuirgis Stimme rief: »Crond, schaff die Frau her. Schnell!«
Schritte eilten die Treppe hoch. Doch da schwang sich eine dunkle Gestalt durchs Fenster in ihre Kammer.
Mit gezücktem Schwert stürmte Crond von der Treppe herein. Die dunkle Gestalt richtete sich auf, auch sie hielt ein Schwert in der Hand. Fidelma stockte der Atem, als sie die Gestalt erkannte.
»Conri!« rief sie, doch der Name ging im lauten Aufeinandertreffen der Schwerter unter. Für einen richtigen Kampf war der Raum viel zu eng, trotzdem schlugen die beiden Männer schonungslos aufeinander ein. Crond führte in rascher Folge Stöße gegen den Brustkorb seines Gegners. Hätte er getroffen, wäre jeder Stoß tödlich gewesen. Doch Conri war nicht umsonst Kriegsfürst der Ui Fidgente. Er parierte jeden Stoß und griff selbst so stürmisch an, daß Crond seine Taktik ändern mußte.
Nach einem schnellen Schwerthieb trat aus Cronds Oberarm Blut aus, was ihn sehr erzürnte. In seiner Wut ließ er seine Deckung außer acht, holte mit seinem Schwert aus und ließ seine rechte Seite ungeschützt. Er wirkte beinahe überrascht, als Conris Schwert tief zwischen seine Rippen drang. Er ließ sein Schwert fallen, taumelte zurück und sank dann langsam zu Boden.
Für kurze Zeit trat Stille ein. Von unten rief jemand: »Die Jagdhütte gehört uns, Conri!«
Der hatte inzwischen sein Schwert in die Scheide gleiten lassen und schnitt mit einem Messer Fidelmas Fesseln durch.
»Fidelma! Bist du verletzt? Ist alles in Ordnung?«
Fidelma konnte anfangs nur nicken; sie rieb sich die Handgelenke. Der Strick hatte tief in ihr Fleisch eingeschnitten und auch an den Fußgelenken Spuren hinterlassen.
»Wie kommst du denn hierher, Conri?« fragte sie schließlich.
Der Kriegsfürst grinste. »Hast du vergessen, daß wir verabredet hatten, uns hier zu treffen?«
Sie lächelte über seinen neckenden Ton. »Aber nicht unter diesen Umständen«, erwiderte sie.
»Das ist wohl wahr«, pflichtete er ihr bei. »Es ist ganz einfach. Wir ritten durch das Tal von Bilboa und warteten am Crois na Rae auf die drei Fürsten. Als sie nicht auftauchten, beschloß ich, die Hälfte meiner Männer an den Bergpässen aufzustellen, falls sie dort entlangkommen sollten. Dann dachte ich an unsere Verabredung. Da wir eine Weile auf die Fürsten gewartet haben, konnten wir nicht schon gestern abend hier sein. Wir sind aber die ganze Nacht hindurch geritten, um wenigstens gegen Morgengrauen bei der Jagdhütte zu sein.«