»So bring ihn her zu mir.«
»Ehe du ihn mir nimmst, nenne mir doch seinen Namen.«
Eadulf zögerte. »Sein Name ist Alchu, und wie ich schon sagte, er ist mein Sohn. Mein Sohn und der von Fidelma von Cashel, Schwester von Colgu, König von Muman.«
Nessan stieß einen Pfiff aus. Seine Frau senkte nachdenklich den Kopf.
»Das erklärt viel. Uaman war ein Ui Fidgente. Deshalb hat er darauf bestanden, das Baby Dioltas zu nennen.«
»Rache?« fragte Eadulf erbittert. »Das paßt zu seiner grausamen, kranken Seele. Komm, ich will jetzt das Kind sehen.«
Er trat einen Schritt auf die Hütte zu, doch Nessan hielt ihn am Arm zurück.
»Was wird mit uns geschehen, Bruder Eadulf? Was wird mit mir und meiner Frau geschehen? Wird Colgu von Cashel uns bestrafen?«
Mitfühlend betrachtete Eadulf die beiden und schüttelte den Kopf.
»Für mich ist das, was ihr getan habt, kein Verbrechen, für das man bestraft werden muß. Uaman, der sich zum Herr dieser Berge ernannt hat, hat euch das Kind gegeben. Er hat euch gesagt, daß ihr euch darum kümmern sollt, und ihr habt es getan. Was ist daran ein Verbrechen?«
Nessan seufzte tief und hob flehend eine Hand.
»Wir hatten uns so sehr ein Kind gewünscht, und unsere Gebete sind nie erhört worden.«
»Gibt es denn keine Waisenkinder, die euren Beistand und eure Liebe benötigen?« mischte sich Gor-man ein. »Ich hätte gedacht, euer Stammesfürst müßte euch in dieser Sache helfen können. Es ist doch immer ein dilechta oder Waisenkind da, das ein neues Zuhause braucht.«
»Niemand würde einem Schäfer ein Kind geben. Ich bin nur ein sen-cleithe, ein Hirte, der nicht einmal eine eigene Herde hat. Keiner ist von noch niedrigerem Stand als ich, außer diejenigen, die ihre Rechte verloren, weil sie das Gesetz übertreten haben, die Feiglinge und die Gefangenen. Ich darf keine Waffen tragen und habe keine Stimme in der Clanversammlung.«
»Wir konnten uns nie an den Fürsten der Corco Duibhne wenden, weil Uaman jahrelang über die Pässe dieser Halbinsel herrschte. Ist er denn wirklich tot?« fragte Muirgen erneut.
»Uaman ist wirklich tot«, wiederholte Eadulf in feierlichem Ernst, um das Ehepaar zu beruhigen. Gor-man stand hinter ihm und hüstelte ungeduldig.
»Wir vergeuden unnötig Zeit, Bruder Eadulf«, murmelte er.
Sofort drehte sich die Frau um und eilte in die Hütte. Als sie wieder herauskam, trug sie Alchu auf den Armen. Tränen standen in ihren Augen, als sie auf das schlafende Kind niederblickte. Dann übergab sie es Eadulf.
Eadulf betrachtete das Baby, auch ihm rannen nun Tränen über die Wangen. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt, als er seinen Sohn sah, den er beinah verloren geglaubt hatte. Er schniefte und versuchte zu lächeln und seine Tränen zurückzuhalten.
»Du hast gut für ihn gesorgt, Muirgen«, sagte er schließlich.
Sie senkte den Kopf. »Ich habe mein Bestes getan.«
»Wenn ich wieder in Cashel bin, werde ich mit dem obersten Brehon über eure Angelegenheit sprechen. Vielleicht werden eure Gebete erhört. Man muß doch etwas für euch tun können.«
Ihre Gesichter verrieten, daß sie ihm kaum zu glauben wagten, aber sie lächelten höflich. Er gestattete der Frau, sich einen Augenblick von dem schlafenden Baby zu verabschieden. Da stellte sich Basil Nestorios neben ihn.
»Das ist sicher dein erstes Kind, sächsischer Bruder?«
Eadulf schaute verwirrt drein, aber er bejahte die Frage. Der Arzt lächelte.
»Das habe ich mir gedacht. Wie weit ist es nach Cashel? Werden wir mehrere Tage reiten?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Du hast sicher vor, das Kind auf dem Pferd mitzunehmen, oder? Für ein so kleines Baby ist eine solche Reise nicht angenehm. Es ist nicht gut, ein Baby so durchzuschütteln.«
»Wir werden langsam reiten. Vielleicht können wir bei der Abtei von Colman einen Wagen bekommen. Das wird dann leichter für ihn.«
Der Arzt lächelte immer noch. »Und wie wird das Kind gefüttert?« fragte er. »Brauchst du nicht eine trophos?«
Eadulf hatte das griechische Wort noch nie zuvor gehört. »Füttern?« Dann dämmerte es ihm. Auf der Reise von Cashel zur Abtei von Colman hatte ja die Frau des Kräutersammlers das Kind gestillt. Natürlich, sein Sohn benötigte für die Rückreise eine Amme. Er blickte zu Muirgen und dem Baby hinüber. Die Lösung schien ganz einfach. Das brachte ihn plötzlich auf einen anderen Gedanken, und er wandte sich an Gorman.
»Du hast doch erzählt, daß du bei Cnoc Äine gekämpft hast. Callada, Saraits Mann, ist dort gefallen, nicht wahr?«
Der Krieger nickte ungeduldig. »So ist es, Callada fiel in der Schlacht bei Cnoc Äine.« Er blickte zum Himmel hinauf. »Wenn wir noch vor Einbruch der Dunkelheit in dem Dorf an der Furt sein wollen, müssen wir bald aufbrechen, Bruder Eadulf.«
»Wann fand die Schlacht statt?« fragte Eadulf beharrlich weiter. »Hilf mir doch auf die Sprünge.«
»Sie fand im Monat von Dubh-Luacran statt, der dunkelsten Zeit des Jahres«, antwortete Gorman verwirrt.
Eadulf gestikulierte ungeduldig mit der Hand. »Aber wann? Vor wieviel Jahren?«
»In genau zwei Monaten wird die Schlacht zwei Jahre her sein.«
Eadulf atmete hörbar aus.
»Wir müssen los, Bruder«, drängte Gorman noch einmal.
Eadulf riß sich von seinen Gedanken los und lächelte Basil Nestorios zu. Auf einmal war er wieder zuversichtlich und voller Energie.
»Vielen Dank für deinen Rat, mein Freund. Trophos, he?« Er wandte sich an die Frau des Schäfers. »Muirgen, man hat mich gerade daran erinnert, daß sich jemand um mein Kind kümmern muß. Könntest du Alchu auf der Rückreise nach Cashel stillen? Du wirst für deine Mühe gut belohnt werden.«
Die Frau war von dem unerwarteten Angebot überrascht. Sie sah zu ihrem Mann hinüber.
»Mein ganzes Leben lang habe ich diese Berge nicht verlassen«, fing sie an.
»Dein Mann darf dich begleiten, und ich verspreche dir, ihr sollt es beide nicht umsonst tun. Für eure sichere Heimkehr später werdet ihr eine Eskorte erhalten«, versprach Eadulf, um einem weiteren Einwand vorzubeugen.
»Und wir werden entschädigt dafür?« fragte Nes-san nachdenklich.
»Ich werde euren Fall Brehon Dathal vortragen«, räumte Eadulf ein.
Der Schäfer und seine Frau tauschten einen Blick aus, in dem stilles Einverständnis lag.
»Meine Schafe stehen für den Winter auf der unteren Weide. Ich muß nur meinem Nachbarn Bescheid geben, daß wir eine Weile fort sein werden und daß wir ihm seine Dienste entgelten werden. Ein paar Wochen kann ich schon von hier weg.«
Eadulf schob seine Hand in den Lederbeutel, den er an seinem Gürtel trug, und holte zwei screpalls raus.
»Gib ihm das hier dafür.«
Nessan eilte davon. Sein Nachbar und dessen Frau waren neugierig aus ihrer Hütte getreten. Bald war man sich einig. Kurz darauf setzte sich die Gesellschaft zu dem ersten Abschnitt der Reise nach Cashel in Gang. Muirgen mit dem in ein Tuch geschlungenen Baby saß auf Basil Nestorios’ zweitem Pferd, das er von seinem Sattel aus am Zügel führte. Nessan hatte direkt hinter Gorman Platz genommen. Eadulf ritt an der Spitze der Gruppe.
Eadulf war in Hochstimmung. Er hatte das Gefühl, etwas Großes vollbracht zu haben. Er hatte Alchu wieder - sein Kind -, und das ganz allein durch seine Bemühungen und seinen Verstand. Er lächelte, als er sich an die Worte seines Vaters erinnerte, der vor ihm Friedensrichter im Land des Südvolks gewesen war. »Denk daran, mein Sohn, wenn du dein Schwert erhebst, so reicht es nicht, es nur auf das Ziel zu richten. Du mußt das Ziel auch treffen.« Mit nichts als einer vagen Vorstellung von seinem Ziel war er aus Cashel fortgeritten. Nun kehrte er zurück und hatte das erreicht, was ganz Cashel seit mehr als über einer Woche nicht gelungen war. Er konnte Fidelmas Lieblingsphilosophen zitieren, wenn er sie wiedersah. Was hatte Publilius Syrus geschrieben? Große Flüsse kann man an der Quelle überspringen. Er hatte die Quelle gefunden und war über den großen Fluß gesprungen und würde nun erfolgreich heimkehren.