»Und du wußtest gleich, daß es Sarait war?« wollte Bischof Ségdae wissen.
Conchoille seufzte schwer. »Jeder in der Stadt kannte Sarait. Sie war eine schöne, attraktive Frau und Witwe dazu. Viele Männer, die ein Auge auf sie geworfen hatten, haben sicher nachgerechnet, wie hoch die coibche für sie sein würde.«
Die coibche war der Brautpreis, die Mitgift, die der zukünftige Ehemann an die Familie der Braut zu zahlen hatte. Nach einem Jahr mußte der Brautvater ein Drittel des Geldes seiner Tochter geben, in deren Besitz es dann überging.
»Konntest du erkennen, wie sie zu Tode gekommen war?« fragte Eadulf.
»Zu dem Zeitpunkt nicht. Ich sah nur das Blut an ihrem Kopf.«
»Was hast du dann gemacht?« fragte Brehon Dathal.
»Ich bin losgerannt, um Leute zu holen. Ich bin geradewegs zu Capas Haus gelaufen. Ich wußte, daß er mit Saraits Schwester Gobnat verheiratet ist. Capa wies seine Frau an, zu Hause zu warten, und ging mit mir los. Unterwegs stießen wir auf jemanden, der zur Burg wollte. Capa trug ihm auf, die Wachen zu alarmieren. Dann schleppten Capa und ich die Leiche in sein Haus. Erst im Licht dort sahen wir, daß man Sarait den Schädel eingeschlagen und mehrmals in die Brust gestochen hatte. Als später Caol und seine Wachleute eintrafen, erfuhren wir, daß Sarait die Festung zusammen mit dem kleinen Alchu verlassen hatte. Also liefen wir zurück in den Wald, aber so sehr wir auch suchten, von dem Kind gab es keine Spur.«
Capa nickte.
»Das stimmt«, erklärte er. »Von dem vermißten Baby wußte ich nichts, bis uns Caol davon erzählte. Ein paar Nachbarn, die uns gehört hatten, halfen uns. Es war klar, daß Sarait nicht von wilden Tieren getötet worden war. Das hatten wir anfangs vermutet. Wie Conchoille schon gesagt hat, wir liefen zurück in den Wald und suchten mit Laternen nach dem kleinen Alchu, doch ohne Erfolg. Beim ersten Morgengrauen machten wir uns noch einmal auf die Suche, doch wir konnten ihn auch dann nicht finden. Schließlich wurden Männer ausgeschickt, die die Leute in der Gegend von dem Vorfall unterrichten sollten. Sie ritten ostwärts nach Gabran, südlich nach Lios Mhor, westwärts nach Cnoc Loinge und nördlich nach Dur las.«
Bruder Eadulf hatte diese Aussage in den letzten beiden Tagen bereits mehrmals gehört. Jetzt war sein Kopf viel klarer, als während der aufwühlenden Gespräche mit Fidelma; es war, als vernehme er das alles zum erstenmal. Plötzlich fiel ihm etwas auf.
»Conchoille, du hast gesagt, daß du südlich der Stadt gearbeitet hast?«
»Ja.«
»Und du hast Saraits Leiche am Waldrand südlich der Stadt gefunden?«
»Das habe ich so gesagt.«
Nachdenklich rieb sich Bruder Eadulf das Kinn.
»Was ist, Eadulf?« wollte Colgu wissen.
»Ich kann bestätigen, daß uns Conchoille an eine Stelle des Weges südlich der Stadt geführt hat«, warf Capa ein und blickte den Sachsen neugierig an.
»Scheinbar übersehen wir hier etwas«, äußerte Eadulf langsam.
»Ich sehe keinen ...«, wandte Brehon Dathal ein.
»Die Burg steht im Norden der Stadt, nicht wahr? Man geht durch die Tore, so wie Sarait es mit dem Baby tat, und läuft den Weg entlang, der zur Stadt führt. Sie aber wurde südlich der Stadt gefunden, auf dem Weg dahinter?«
Brehon Dathal stieß einen ungeduldigen Laut aus. »Worauf willst du hinaus?«
Nun sprach Finguine, der Tanist, der in der Runde bisher noch nichts gesagt hatte. Er war offenbar etwas verblüfft.
»Ich habe begriffen. Sarait wurde dringend zu ihrer Schwester Gobnat gerufen. Gobnat lebt in der Stadt.«
»Aber Gobnat hat sie gar nicht zu sich gebeten«, stellte Brehon Dathal klar.
»Das ist wohl wahr. Doch das wußte Sarait nicht. Nun, sie ging also durch die Stadt und wurde tot im Wald aufgefunden. Warum sollte sie sich mit dem Kind so weit entfernen? Was brachte sie dazu, am Haus ihrer Schwester vorbeizugehen?«
Nun herrschte Schweigen. Brehon Dathal lächelte auf einmal, als wolle er einem Idioten etwas erklären.
»Entweder ist sie dazu gezwungen worden oder sie wußte, daß die Nachricht nicht von ihrer Schwester stammte.«
Rasch lehnte sich Eadulf vor. »Soll das heißen, daß Sarait den Wächter angelogen hat? Daß sie zu einem ganz anderen Treffen ging?«
»Bringt Gobnat noch einmal herein«, ordnete Brehon Dathal an.
»Bin ich fertig, mein König?« fragte Conchoille. Er hatte die Diskussion geduldig abgewartet.
»Du kannst nach draußen gehen«, erklärte Colgu abwesend.
Nun wurde Gobnat wieder in den Raum gerufen.
»Erkläre uns vielleicht noch eins«, fing Brehon Dathal an. »Du hast ausgesagt, daß du deine Schwester nicht zu dir gebeten hast?«
»Das stimmt, mein Lord.« Sie nickte kurz.
»Und hast du sie irgendwann an jenem Abend gesehen, also nach Einsetzen der Dämmerung?«
»Ich habe sie nicht rufen lassen.«
»Das habe ich nicht gefragt. Hast du sie gesehen?«
»Nein. Meine Schwester und ich hatten keinen engen Kontakt. Sie kam nur selten zu mir.«
Capa blickte sie stirnrunzelnd an und unterbrach sie.
»Hohe Herren, wir haben bereits festgestellt, daß meine Frau nicht nach ihrer Schwester geschickt hat. Das kann ich bestätigen.« »Aber wenn Sarait geglaubt hat, Gobnat hätte sie gerufen, wäre sie dann nicht unverzüglich gekommen?« fragte Finguine.
Gobnat zuckte gleichgültig die Schultern.
»Wo genau befindet sich dein Haus?« fragte der Tanist weiter.
»Das weiß doch jeder«, erwiderte die Frau. »Es steht an dem Platz in der Nähe der Schmiede.«
»Um zu dem Weg zu gelangen, der südlich zu Fer-logas Wirtsstube und nach Rath na Drinne führt, muß man durch die ganze Stadt hindurch, oder?«
»Natürlich, und .«
»Und dort wurde deine Schwester tot gefunden«, stellte Bischof Ségdae ruhig fest, wobei sich sein Gesicht verfinsterte.
»Du bist sicher, daß deine Schwester an jenem Abend nicht in dein Haus kam, ehe sie den Weg weitergelaufen ist?« fragte Brehon Dathal. »Ist es möglich, daß sie vielleicht doch da war und ihr sie nicht gehört habt?«
»Nein, sie war nicht da. Capa und ich haben nichts gehört, bis Conchoille bei uns klopfte.«
»Ich verstehe nicht, warum ihr meine Frau mit solchem Nachdruck befragt, meine Herren. Bezweifelt ihr die Richtigkeit ihrer und meiner Worte?« erkundigte sich Capa.
Nun ergriff Eadulf wieder das Wort.
»Eine erfahrene ddlaigh hat mir einmal erklärt, daß ein großer Rechtsgelehrter, Brehon Morann, gesagt hat, der Gedanke sei eine menschliche Waffe, mit der man die Wahrheit einfangen kann. In den letzten beiden Tagen haben wir uns bemüht, die Fakten zusammenzutragen. Wir haben die Fakten zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht über sie nachgedacht. Wir waren zu sehr in unser Tun vertieft, doch nun müssen uns unsere Gedanken zur Wahrheit führen.«
Während ihn die anderen anstarrten, als spräche er in einer fremden Sprache, blickte ihn Colgu lächelnd an.
»Eadulf, das hätte meine Schwester gesagt haben können.«
Eadulf lächelte leicht. »Das ist ein großes Kompliment, Colgu, weil sie eben jene ddlaigh ist, die ich zitiert habe.«
»Ich habe immer noch nicht verstanden, was du meinst, Bruder Eadulf«, sagte Capa.
Eadulf lehnte sich nach hinten und legte die Handflächen auf den Tisch.
»Wir sollten versuchen, unsere Gedanken mit den Tatsachen, die wir nun kennen, zusammenfließen zu lassen. Wenn wir über sie nachdenken, können neue Ideen auftauchen. Einige davon mögen wir verwerfen, andere könnten uns neue Lösungswege offenbaren. Zum Beispiel müssen wir uns fragen, warum Sarait nicht zu Gobnat gegangen ist, wenn sie die Burg mit dem Baby verließ in dem Glauben, ihre Schwester hätte nach ihr geschickt. Statt dessen scheint sie einen Umweg um die Stadt gemacht und das Haus ihrer Schwester ganz gemieden zu haben.«