»Anders ausgedrückt«, fügte Eadulf hinzu, »jeder andere, der eine Nachricht von seiner Schwester erhält und dringend zu ihr gebeten wird, würde doch gewiß das ihm anvertraute Baby in die Obhut eines anderen geben. Doch Sarait nahm Alchu in jener kalten Nacht mit, obwohl sich mehrere Frauen in der Nähe aufhielten, bei denen sie ihn hätte lassen können.«
Wieder herrschte Schweigen.
»All das bestätigt doch nur, daß meine Frau eine solche Botschaft nie geschickt hat.« Capa räusperte sich. »Falls Sarait gewußt hat, daß die Aufforderung nicht von Gobnat kam, so muß sie Caol angelogen haben, was ihren Gang in die Stadt betrifft, oder?«
»Das ist eine logische Schlußfolgerung«, stimmte ihm Eadulf zu.
»Da ist noch etwas anderes sehr rätselhaft«, sprach Fidelma ruhig weiter. Sie blickte erst zu Eadulf, dann zu ihrem Bruder. »Da ich die bisherige Anhörung der Zeugen nicht mitverfolgt habe, weiß ich nicht, ob es euch aufgefallen ist. Statt zum Haus ihrer Schwester zu gehen, wie sie dem Wächter mitgeteilt hatte, lief Sarait mit dem Baby um die Stadt herum zu dem dahinterliegenden Wald, wo sie dann ermordet wurde. Warum mag sie das getan haben?«
»Das ist uns auch schon aufgefallen, Fidelma«, bemerkte Brehon Dathal herablassend.
»Dank Bruder Eadulf, der uns darauf hingewiesen hat«, murmelte Bischof Ségdae.
»Und habt ihr eine Erklärung dafür?« fragte Fidelma.
»Manches läßt sich erst klären, wenn wir den Täter haben«, erwiderte Brehon Dathal schroff, denn ihn hatte der spöttische Einwurf des Bischofs gereizt. »Ich glaube nicht, daß wir damit die Schuldigen überführen können.«
»Das Fragenstellen ist zumindest ein Anfang, den Täter zu finden«, erwiderte Fidelma mit spitzer Zunge. »Oder verfügt der weise Brehon über eine andere Vorgehensweise?«
»Wir müssen noch andere Dinge berücksichtigen«, erklärte Eadulf rasch, ehe der vor Wut rot angelaufene Richter antworten konnte.
Nun blickten ihn wieder alle an.
»Die da wären?« fragte Cerball interessiert, der das Protokollieren der Ratsversammlung vergaß und von seiner Schreibtafel aufschaute.
»Hinter jeder Handlung verbirgt sich eine Absicht«, antwortete Eadulf. »Haben wir jede einzelne Handlung auf ihre Absicht hin überprüft?«
Die Anwesenden starrten ihn verständnislos an, außer Fidelma, die ihm einen ermutigenden Blick zuwarf.
»Stellen wir mal eine Frage in den Raum«, fuhr er fort. »War es beabsichtigt, Sarait in den Wald zu lok-ken, um sie zu ermorden? Oder war es beabsichtigt, Sarait mit dem Baby hinauszulocken, um das Kind zu entführen? Und war der Mord an Sarait deshalb nur eine unvermeidliche Folge der Kindesentführung?«
»Oder war der Mörder, der eigentlich nur Sarait ermorden wollte, auf einmal mit dem Kind konfrontiert und nahm es mit, weil ihm nichts anderes übrigblieb?« führte Brehon Dathal weiter aus.
Bischof Ségdae setzte eine sarkastische Miene auf. »Ich glaube nicht, daß ein Mörder, der gerade eine Amme niedergestochen hat, auf einmal einem hilflosen Baby gegenüber fürsorgliche Gefühle entwickelt und es mitnimmt, um es vor den nächtlichen Gefahren zu schützen.«
Fidelma zog die Augenbrauen hoch. »Mir fällt auf, daß wir alle davon ausgehen, daß der Mörder ein Mann ist. Ist das Geschlecht des Täters schon bekannt, oder meint ihr, daß eine Frau einer solchen Tat nicht fähig ist?«
Der Bischof starrte sie an. »Wir nahmen an ...«
»Ich verstehe.« Fidelma unterbrach ihn. Dann wandte sie sich an die anderen. »Es kann gefährlich sein, Vermutungen anzustellen. Wir müssen allen Möglichkeiten gegenüber offen sein. Eadulfs Frage müssen wir sorgfältig überdenken.«
Brehon Dathal schüttelte den Kopf.
»Es gibt einen Unterschied zwischen dem Entführen eines Kindes aus den momentanen Umständen heraus und einer geplanten Entführung. Ich war einmal mit einem Fall befaßt, in dem eine geistig verwirrte Frau, die ihr eigenes Kind verloren hatte, ein Baby entführte, um ihres zu ersetzen. Doch das Szenarium, das hier entworfen wird ...«
»Fuatach.« Fidelma verwendete den alten Rechtsbegriff für eine gewaltsame Entführung.
»Um Lösegeld zu erpressen?« fragte Brehon Dathal skeptisch. Er schien zu vergessen, zu wem er sprach. »Bisher ist keine Lösegeldforderung erhoben worden. Würde es sich um eine erpresserische Entführung handeln, wäre uns das schon längst bekannt. Ich glaube, solch abwegige Vorschläge können wir abtun ...«
Colgu erhob sich verdrießlich. Sein Tanist Finguine legte ihm eine Hand auf den Arm, als wolle er ihn besänftigen und auf seinen Stuhl zurückholen.
»Es stimmt«, sagte Finguine schnell, »daß bisher keine Forderungen erhoben wurden, die uns glauben machen könnten, daß Alchu deshalb verschwunden ist. Wir sollten dennoch diese Möglichkeit nicht ausschließen.«
»Wir haben die angrenzende Umgebung abgesucht«, sagte Capa nun. »Nirgendwo fand sich eine Spur von dem von Caol beschriebenen Kind, und von Alchu auch nicht. Wenn seine Entführer hier kein gutes Versteck gefunden haben, sind sie mit Alchu wohl nicht mehr in dieser Gegend.«
Wieder schwiegen alle. Eadulf holte tief Luft.
»Ich behaupte, daß das Baby von jemandem mitgenommen wurde, der sich ein Kind wünschte«, verkündete Brehon Dathal. »Irgendein Kind, nicht zwangsläufig Fidelmas Kind. Wer immer Alchu nun in seiner Gewalt hat, er ist nicht mehr in dieser Gegend. Eine andere Schlußfolgerung gibt es für mich nicht.«
Eadulf sah, wie Fidelma die Lippen aufeinanderpreßte. Doch dann entspannten sich ihre Gesichtszüge, und ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. Es lag ein Hauch Sarkasmus darin, aber es war immerhin ein Lächeln. Sie wandte sich an Capa: »Brehon Dathal hat etwas Richtiges gesagt«, ließ sie sich hören. Eadulf erwartete daraufhin eine zynische Bemerkung von ihr, denn er wußte, daß sie von dem aufgeblasenen obersten Richter von Muman keine sehr hohe Meinung hatte. Doch er wurde enttäuscht. »Erinnere dich an die Zeit vor drei oder vier Tagen - oder noch kurz davor - und sag uns, welche Fremden durch Cashel gezogen sind.«
Capa schien darauf nichts einzufallen. Da meldete sich Finguine, der Tanist, wieder zu Wort.
»Ich habe sofort daran gedacht, Fidelma, also habe ich das sorgfältig überprüft, doch leider, liebe Cousi-ne, zeigten meine Nachforschungen keine besonderen Ergebnisse. Drei Schiffe fuhren den Fluß Suir hinauf, es waren Händler von den Häfen am Meer. Sie luden ihre Ware ab, warteten auf eine neue Ladung für den Rückweg und segelten dann wieder zurück. Meine Leute haben diese Schiffe sehr gründlich durchsucht, aber es waren keine Kinder an Bord. Außerdem gab es da noch eine kleine Gruppe von Pilgern, ein trauriger Haufen von Mönchen mit körperlichen Gebrechen, die nach Imleach unterwegs waren .«
Ségdae, der Bischof von Imleach, nickte bestätigend. »Sie hatten erfahren, daß ich mich in Cashel aufhielt, also baten sie mich um meinen Segen, ehe sie zum Kloster des heiligen Ailbe weiterzogen. Dort wollten sie Linderung für ihre Gebrechen erbitten. Einige waren von Geburt an mißgestaltet, andere hatten im Krieg furchtbare Verletzungen erlitten und waren nun behindert. Unter ihnen befanden sich weder Kinder noch Säuglinge.«
Finguine nickte. »Ich ging zu dem Gasthof in der Stadt, in dem die Pilger die Nacht verbrachten, und fragte sie, ob sie etwas Ungewöhnliches bemerkt hätten. Bedauernswerte Geschöpfe. Ich hoffe, ihre Gebete werden erhört und ihre Wünsche gehen in Erfüllung.«
»Ich schätze, auch dabei ist nicht viel herausgekommen?« fragte Fidelma.
»Ihr Führer, Bruder Buite von Magh Ghlas, sagte, daß sie von dem Lärm der Wachleute geweckt wurden. Das muß geschehen sein, nachdem man Saraits Leiche entdeckt hatte. Das war auch schon alles.«
»Und diese Pilgergruppe ist dann nach Imleach aufgebrochen?« wollte Fidelma wissen.