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»Ja«, sagte sie. »Menschen können unter - unter krankhafter Herrschsucht leiden. Sie werden tyrannisch und bestehen darauf, dass alles genau so gemacht wird, wie sie sagen, und es ist immer äußerst schwierig, mit solchen Menschen zurechtzukommen. «

Carol stellte ihre Tasse ab.

»Ach«, rief sie, »ich bin ja so froh, dass ich mit Ihnen reden kann! Ich glaube nämlich, dass Ray und ich schon - na ja, richtig komisch geworden sind. Wir steigern uns schon in alles Mögliche hinein.«

»Es tut immer gut, mit einem Unbeteiligten zu sprechen«, sagte Sarah. »Innerhalb der eigenen Familie ist man meist zu gefühlsbetont.« Dann fragte sie beiläufig: »Wenn Sie so unglücklich sind -haben Sie dann nie daran gedacht, von zu Hause wegzugehen?«

Carol sah sie entsetzt an. »O nein! Wie könnten wir? Ich, ich meine, Mutter würde es nie erlauben.«

»Aber sie könnte Sie nicht daran hindern«, sagte Sarah sanft. »Sie sind doch volljährig.«

»Ich bin dreiundzwanzig.«

»Eben.«

»Trotzdem kann ich es nicht - ich meine, ich wüsste gar nicht, wo ich hingehen und was ich tun sollte.«

Ihre Stimme klang bestürzt.

»Wissen Sie«, sagte sie, »wir haben kein Geld.«

»Haben Sie keine Freunde, zu denen Sie gehen könnten?«

»Freunde?« Carol schüttelte den Kopf. »O nein, wir kennen niemanden!«

»Hat keiner von Ihnen je daran gedacht, sich selbstständig zu machen?«

»Nein. Ich glaube nicht. Das - das könnten wir nicht.«

Sarah wechselte das Thema. Die Bestürzung des jungen Mädchens erregte ihr Mitleid.

Sie sagte: »Mögen Sie Ihre Stiefmutter?«

Carol schüttelte langsam den Kopf. Mit ängstlicher Stimme flüsterte sie: »Ich hasse sie. Und Ray hasst sie auch. Wir -wir haben uns oft gewünscht, dass sie tot wäre.«

Sarah wechselte erneut das Thema.

»Erzählen Sie mir etwas über Ihren älteren Bruder.«

»Über Lennox? Ich weiß nicht, was mit Lennox los ist. Er spricht kaum noch. Er ist immer wie in Trance. Nadine macht sich schreckliche Sorgen um ihn.«

»Sie haben Ihre Schwägerin gern, nicht?«

»Ja. Nadine ist anders. Sie ist immer freundlich. Aber sie ist sehr unglücklich.«

»Wegen Ihres Bruders?«

»Ja.«

»Sind die beiden schon lange verheiratet?«

»Vier Jahre.«

»Und sie haben immer bei Ihnen zu Hause gewohnt?«

»Ja.«

»Gefällt das Ihrer Schwägerin?«, fragte Sarah.

»Nein.«

Nach einer Weile sagte Caroclass="underline" »Vor etwas über vier Jahren gab es einen furchtbaren Krach. Ich sagte Ihnen ja bereits, dass keiner von uns daheim das Haus verlässt. Ich meine, wir gehen natürlich in den Garten und so, aber das ist alles. Nur Lennox hat sich manchmal nachts aus dem Haus geschlichen. Er ging nach Fountain Springs - zu einer Tanzveranstaltung. Mutter war furchtbar wütend, als sie dahinter kam. Es war schrecklich! Bald darauf hat sie dann Nadine eingeladen. Nadine ist eine entfernte Verwandte meines Vaters. Sie war sehr arm und ließ sich damals zur Krankenschwester ausbilden. Sie kam und blieb einen Monat bei uns. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie aufregend es war, jemanden zu Besuch zu haben! Und sie und Lennox verliebten sich ineinander. Und Mutter meinte, dass es das Beste wäre, wenn sie schnell heiraten und weiter bei uns wohnen würden.«

»Und Nadine war damit einverstanden?«

Carol zögerte. »Ich glaube nicht, dass sie große Lust dazu hatte, aber sie hatte auch nicht direkt etwas dagegen. Später wollte sie dann weg - zusammen mit Lennox natürlich.«

»Aber daraus wurde nichts?«

»Nein. Mutter wollte nichts davon wissen.«

Carol schwieg einen Moment und sagte dann: »Ich glaube, dass - dass sie Nadine inzwischen nicht mehr mag. Nadine ist -eigenartig. Man weiß nie, was sie denkt. Sie versucht Jinny zu helfen, und das passt Mutter nicht.«

»Jinny ist Ihre jüngere Schwester?«

»Ja. Ihr richtiger Name ist Ginevra.«

»Ist sie - auch unglücklich?«

Carol schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Jinny ist seit einiger Zeit ziemlich sonderbar. Ich verstehe sie nicht. Wissen Sie, sie war schon immer sehr zart - und -und Mutter macht ein ziemliches Getue darum - was alles nur noch schlimmer macht. Aber in letzter Zeit ist Jinny wirklich sonderbar. Sie - manchmal jagt sie mir direkt Angst ein. Sie weiß bisweilen gar nicht, was sie tut.«

»War sie schon bei einem Arzt?«

»Nein. Nadine hat es ihr geraten, aber Mutter war strikt dagegen. Und da ist Jinny ganz hysterisch geworden und hat geschrien und gesagt, dass sie auf keinen Fall zum Arzt geht. Aber ich mache mir Sorgen um sie.«

Dann stand Carol plötzlich auf.

»Ich möchte Sie nicht länger aufhalten. Sie wollen sicher zu Bett gehen. Es - es war sehr nett von Ihnen, dass ich herkommen und mit Ihnen reden durfte. Sie müssen uns für eine sehr merkwürdige Familie halten.«

»Ach, jeder Mensch ist irgendwie merkwürdig«, sagte Sarah leichthin. »Kommen Sie doch wieder. Sie dürfen auch gern Ihren Bruder mitbringen.«

»Wirklich?«

»Aber ja! Und dann stecken wir die Köpfe zusammen und hecken etwas aus. Ich möchte auch, dass Sie einen Freund von mir kennen lernen, einen Dr. Gerard, einen sehr sympathischen Franzosen.«

Carols Wangen färbten sich.

»Ach, das hört sich herrlich an! Wenn nur Mutter nichts davon erfährt.«

Sarah verbiss sich ihre ursprüngliche Antwort und sagte stattdessen: »Warum sollte sie? Sagen wir, morgen um die gleiche Zeit?«

»O ja! Es könnte nämlich sein, dass wir übermorgen wegfahren.«

»Dann bleibt es definitiv bei morgen Abend. Gute Nacht.«

»Gute Nacht - und vielen Dank.«

Carol ging hinaus und huschte leise durch den Korridor. Ihr Zimmer lag eine Etage höher. Als sie dort ankam und die Tür aufmachte, blieb sie vor Schreck auf der Schwelle stehen. In einem Sessel neben dem Kamin saß Mrs. Boynton, in einen grellroten wollenen Morgenrock gehüllt.

Carols Lippen entfuhr ein spitzer Schrei.

Zwei schwarze Augen sahen sie bohrend an. »Wo bist du gewesen, Carol?«

»Ich - ich - «

»Wo warst du?«, fragte die leise, raue Stimme mit dem eigentümlichen drohenden Unterton, der Carols Herz jedes Mal vor unerklärlicher Angst schneller schlagen ließ.

»Bei Miss King - bei Sarah King.«

»Bei der jungen Frau, die gestern Abend Raymond angesprochen hat?«

»Ja, Mutter.«

»Hast du vor, dich wieder mit ihr zu treffen?«

Carols Lippen bewegten sich lautlos. Sie nickte bejahend. Furcht erfasste sie, eine mächtige, entsetzliche Woge der Furcht.

»Wann?«

»Morgen Abend.«

»Du wirst nicht hingehen. Verstanden?«

»Ja, Mutter.«

»Versprochen?«

»Ja. Ja.«

Mrs. Boynton begann sich aus ihrem Sessel zu hieven. Carol trat automatisch näher und half ihr. Mrs. Boynton ging langsam, auf ihren Stock gestützt, zur Tür. Dort blieb sie stehen und drehte sich noch einmal nach dem verstörten jungen Mädchen um.

»Du wirst nichts mehr mit dieser Miss King zu tun haben. Hast du mich verstanden?«

»Ja, Mutter.«

»Dann wiederhole es.«

»Ich werde nichts mehr mit ihr zu tun haben.«

»Gut.«

Mrs. Boynton verließ das Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.

Carol ging mit steifen Bewegungen hinüber zum Bett. Ihr war übel, ihr ganzer Körper kam ihr hölzern und fremd vor. Sie ließ sich auf das Bett fallen und wurde plötzlich von heftigem Schluchzen geschüttelt. Ihr war gewesen, als hätte sich ein Blick vor ihr aufgetan - ein Panorama voller Sonnenschein und Bäumen und Blumen.

Doch nun hatten sich die schwarzen Mauern um sie herum wieder geschlossen.