Achtes Kapitel
»Kann ich Sie einen Moment sprechen?«
Nadine Boynton drehte sich überrascht um und blickte in die dunklen, eifrigen Augen einer ihr völlig unbekannten jungen Frau.
»Gewiss. Natürlich.«
Aber noch während sie sprach, warf sie, fast unbewusst, einen kurzen nervösen Blick über die Schulter.
»Mein Name ist Sarah King«, fuhr die andere fort.
»Und Sie wünschen?«
»Mrs. Boynton, ich möchte Ihnen etwas sagen, was Ihnen sicher sehr seltsam vorkommt. Ich habe mich neulich abends ziemlich lange mit Ihrer Schwägerin unterhalten. «
Über Nadine Boyntons ruhiges Gesicht schien ein leiser Schatten zu huschen.
»Sie haben mit Ginevra gesprochen?«
»Nein, nicht mit Ginevra - mit Carol.«
Der Schatten verschwand. »Ach so - mit Carol.«
Nadine Boynton schien erfreut, aber auch etwas erstaunt zu sein. »Wie haben Sie denn das geschafft?«
»Sie kam auf mein Zimmer«, sagte Sarah, »spät nachts.«
Sie sah, wie sich die nachgezogenen Augenbrauen leicht nach oben bewegten. Verlegen fuhr sie fort: »Sie finden das bestimmt sehr merkwürdig.«
»Nein«, sagte Nadine Boynton. »Es freut mich. Es freut mich sogar sehr. Es ist schön, dass Carol jemanden hat, mit dem sie reden kann.«
»Wir - wir haben uns sehr gut verstanden.« Sarah bemühte sich, ihre Worte sorgfältig zu wählen. »So gut, dass wir uns für den Abend darauf wieder verabredet haben.«
»Und?«
»Aber Carol kam nicht.«
»Sie kam nicht?«
Nadines Stimme klang kühl, nachdenklich. Ihr Gesicht, das so ruhig und sanft war, verriet Sarah nichts.
»Nein. Gestern begegneten wir uns in der Hotelhalle. Ich sprach sie an, aber sie sagte kein Wort. Sah mich nur kurz an, wandte den Blick ab und eilte weiter.«
»Ich verstehe.«
Das Gespräch stockte. Es fiel Sarah schwer weiterzusprechen. Schließlich sagte Nadine Boynton: »Das - tut mir sehr Leid. Carol ist - ziemlich ängstlich und scheu.«
Wieder Schweigen. Sarah nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Wissen Sie, Mrs. Boynton, ich bin Ärztin. Und ich glaube -ich glaube, dass es für Ihre Schwägerin gut wäre, wenn sie - sich nicht zu sehr von anderen Menschen abkapseln würde.«
Nadine Boynton sah Sarah nachdenklich an. »Ich verstehe. Sie sind also Ärztin. Das ist natürlich etwas anderes.«
»Dann verstehen Sie, wovon ich spreche?«, sagte Sarah eindringlich.
Nadine neigte den Kopf. Sie war noch immer gedankenvoll.
»Sie haben natürlich vollkommen Recht«, sagte sie nach einer Weile. »Aber es ist nicht so einfach. Meine Schwiegermutter ist bei schlechter Gesundheit und sie hat eine, ich möchte sagen, krankhafte Abneigung dagegen, Außenstehende in den Kreis ihrer Familie vordringen zu lassen.«
»Aber Carol ist eine erwachsene Frau!«, sagte Sarah rebellisch.
Nadine Boynton schüttelte den Kopf.
»O nein«, sagte sie. »Körperlich vielleicht, aber nicht geistig. Das müssen Sie doch bemerkt haben, als Sie mit ihr sprachen. In einer kritischen Situation wird sie immer wie ein verängstigtes Kind reagieren.«
»Glauben Sie, dass das der Grund war? Glauben Sie, dass sie - Angst bekam?«
»Ich könnte mir vorstellen, dass meine Schwiegermutter darauf bestand, dass Carol nichts mehr mit Ihnen zu tun hat, Miss King.«
»Und Carol gehorchte?«
Nadine Boynton sagte ruhig: »Können Sie sich wirklich etwas anderes bei ihr vorstellen?«
Die Blicke der beiden Frauen trafen sich. Sarah spürte, dass sie und Nadine sich hinter der Maske konventioneller Worte verstanden. Sie hatte das Gefühl, dass die andere die Situation richtig einschätzte, aber offensichtlich nicht bereit war, darüber zu sprechen.
Sarah ließ den Mut sinken. Neulich abends hatte sie das Gefühl gehabt, dass die Schlacht schon halb gewonnen sei. Sie hatte geglaubt, Carol bei weiteren heimlichen Treffen zur Auflehnung anstacheln zu können - sie und natürlich auch Raymond. (Um ganz ehrlich zu sein: Hatte sie dabei nicht die ganze Zeit in Wahrheit Raymond im Sinn gehabt?) Und nun war sie gleich im ersten Gefecht schmählich von dem unförmigen Koloss mit den bösen, schadenfrohen Augen besiegt worden. Carol hatte sich kampflos geschlagen gegeben.
»Aber das ist doch völlig falsch!«, rief Sarah aus.
Nadine sagte nichts. Ihr Schweigen traf Sarah wie eine eiskalte Hand, die sich auf ihr Herz legte. Sie dachte: Diese Frau weiß viel besser als ich, wie hoffnungslos alles ist. Sie muss damit leben!
Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und die alte Mrs. Boynton trat heraus. Sie ging auf ihren Stock gelehnt, während Raymond sie auf der anderen Seite stützte.
Sarah zuckte leicht zusammen. Sie sah, wie die Augen der alten Frau von ihr zu Nadine und wieder zurück wanderten. Sie war darauf gefasst gewesen, Abneigung in diesen Augen zu lesen, ja sogar Hass. Aber sie war nicht auf das gefasst, was sie tatsächlich in ihnen sah - triumphierendes und boshaftes Vergnügen. Sarah wandte sich ab. Nadine ging zu den beiden hinüber.
»Da bist du ja, Nadine«, sagte Mrs. Boynton. »Ich werde mich einen Moment setzen und ausruhen, bevor ich ausgehe.«
Die beiden halfen ihr auf einen Stuhl mit hoher Rückenlehne. Nadine setzte sich neben sie.
»Mit wem hast du dich eben unterhalten, Nadine?«
»Mit einer Miss King.«
»Ach, ja. Das junge Ding, das neulich abends mit Raymond sprach. Nun, Ray, warum gehst du nicht hin und redest mit ihr? Sie steht drüben am Schreibtisch.«
Der Mund der alten Frau verzog sich zu einem breiten boshaften Lächeln, während sie Raymond betrachtete. Der junge Mann wurde rot. Er wandte das Gesicht ab und murmelte etwas.
»Was sagtest du gerade, mein Sohn?«
»Dass ich nicht mit ihr reden will.«
»Nun, das dachte ich mir. Du wirst nicht mit ihr reden. Du könntest es gar nicht, selbst wenn du es noch so sehr wolltest!«
Sie hustete plötzlich. Es klang pfeifend und keuchend.
»Ich genieße diese Reise sehr, Nadine«, sagte sie. »Ich hätte sie mir um nichts auf der Welt entgehen lassen.«
»Tatsächlich?« Nadines Stimme war ausdruckslos.
»Ray.«
»Ja, Mutter?«
»Hol mir einen Bogen Briefpapier - von dem Tisch dort drüben in der Ecke.«
Raymond gehorchte. Nadine hob den Kopf. Sie beobachtete jedoch nicht den jungen Mann, sondern die alte Frau. Mrs. Boynton hatte sich vorgebeugt, und ihre Nasenflügel bebten vor freudiger Erregung. Ray ging dicht an Sarah vorbei. Sie blickte auf, und auf ihrem Gesicht erschien ein erwartungsvoller Ausdruck. Er verschwand sofort, als Raymond an ihr vorbeihuschte, etwas Briefpapier aus der Mappe nahm und wieder zurückging.
Auf seiner Stirn standen Schweißperlen, als er bei seiner Mutter ankam, und sein Gesicht war leichenblass.
Mrs. Boynton, die ihn scharf beobachtete, sagte ganz leise: »Aha.«
Dann sah sie, dass Nadines Blick auf ihr ruhte. Der Ausdruck, der darin lag, ließ sie vor jähem Zorn blinzeln.
»Wo ist denn unser Mr. Cope heute Morgen?«, fragte sie.
Nadine schlug die Augen nieder. Mit ihrer sanften, ausdruckslosen Stimme erwiderte sie: »Das weiß ich nicht. Ich habe ihn noch nicht gesehen.«
»Ich mag ihn«, sagte Mrs. Boynton. »Ich mag ihn sogar sehr. Wir sollten ihn viel öfter bei uns haben. Das würde dir doch gefallen, stimmt’s?«
»Ja«, sagte Nadine. »Ich habe ihn auch sehr gern.«
»Was ist eigentlich in letzter Zeit mit Lennox los? Er kommt mir sehr still und teilnahmslos vor. Zwischen euch ist doch alles in Ordnung, oder?«
»Aber ja. Was sollte schon sein?«
»Keine Ahnung. Auch zwischen Eheleuten gibt es gelegentlich Spannungen. Vielleicht wärt ihr glücklicher, wenn ihr euer eigenes Heim hättet?«