Выбрать главу

»Wie man mir sagte, sind außer Ihnen und mir nur noch zwei Damen dabei. Also gerade ein Wagen voll.«

»Das wird bestimmt sehr nett«, sagte Gerard mit einer kleinen Verbeugung und widmete sich dann seinen Angelegenheiten.

Als Sarah das Reisebüro verließ, schloss er sich, mit seiner Post in der Hand, ihr wieder an. Es war ein klarer, sonniger Tag, und die Luft war ausgesprochen frisch.

»Was gibt es Neues von unseren Freunden, den Boyntons?«, erkundigte sich Dr. Gerard. »Ich war in Nazareth und Bethlehem und einigen anderen Orten -ein dreitägiger Ausflug.«

Langsam und fast widerstrebend berichtete Sarah von ihren fruchtlosen Bemühungen, Kontakt herzustellen.

»Jedenfalls hatte ich keinen Erfolg«, sagte sie abschließend. »Und heute reisen sie ab.«

»Wohin fahren sie?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Ärgerlich fuhr sie fort: »Ich habe das dumme Gefühl, dass ich mich ziemlich zum Narren gemacht habe.«

»In welcher Hinsicht?«

»Mich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen. «

Gerard zuckte die Schultern. »Das ist Ansichtssache.«

»Sie meinen, ob man sich einmischen soll oder nicht?«

»Ja.«

»Tun Sie es?«

Der Franzose schien amüsiert zu sein. »Sie meinen, ob ich die Angewohnheit habe, mich mit den Problemen anderer Leute zu befassen? Um ganz ehrlich zu sein: Nein.«

»Dann halten Sie es also für falsch, dass ich versucht habe, mich einzumischen?«

»Nein, o nein, Sie missverstehen mich.« Gerard sprach schnell und mit Nachdruck weiter. »Für mich ist es eine rein akademische Frage, ob man - wenn man sieht, dass Unrecht geschieht - versuchen sollte, etwas dagegen zu unternehmen. Das eigene Eingreifen kann von Nutzen sein -aber es kann auch unermesslichen Schaden anrichten! Es lassen sich hierzu keine festen Regeln aufstellen. Manche Leute haben eine Begabung dafür, sich einzumischen - sie machen ihre Sache gut! Andere gehen dabei plump vor und sollten besser die Finger davon lassen! Aber es ist auch eine Frage des Alters. Junge Menschen besitzen den Mut ihrer Ideale und Überzeugungen - ihre Wertvorstellungen sind eher theoretischer als praktischer Art. Sie wissen noch nicht aus eigener Erfahrung, dass Theorie und Praxis zweierlei Dinge sind! Wenn man an sich selbst und an die Rechtmäßigkeit seines Tuns glaubt, kann man oft Dinge erreichen, die den Einsatz wirklich lohnen. Nebenbei bemerkt, richtet man dabei aber auch oft sehr viel Schaden an. Ein älterer Mensch dagegen besitzt Erfahrung. Er hat festgestellt, dass es in den meisten Fällen mehr schadet als nützt, wenn man versucht, sich einzumischen - und darum unterlässt er es klugerweise! Das Resultat ist praktisch das gleiche: Der engagierte junge Mensch richtet nicht nur Schaden an, sondern tut auch Gutes, und der vorsichtig gewordene ältere Mensch tut keins von beiden.«

»Was Sie da sagen, ist nicht gerade hilfreich«, wandte Sarah ein.

»Kann ein Mensch einem anderen denn überhaupt helfen? Aber es ist Ihr Problem, nicht meines.«

»Heißt das, dass Sie im Fall der Boyntons nichts unternehmen werden?«

»Genau. Ich hätte keinerlei Aussichten auf Erfolg.«

»Dann habe ich wohl auch keine.«

»Bei Ihnen könnte es sich anders verhalten.«

»Wieso?«

»Weil Sie über besondere Voraussetzungen verfügen. Die Zugkraft Ihrer Jugend und Ihres Geschlechts.«

»Meines Geschlechts? Ach so.«

»Darauf läuft es letzten Endes immer hinaus, habe ich Recht? Bei dem jungen Mädchen hatten Sie kein Glück. Das bedeutet nicht, dass es Ihnen bei dem Bruder ebenso ergehen muss. Was Sie mir vorhin erzählt haben - von dem, was Carol Boynton Ihnen sagte -, zeigt deutlich, von welcher Seite Mrs. Boyntons Herrschsucht Gefahr droht. Der älteste Sohn, Lennox, widersetzte sich ihr im Überschwang des frühen Mannesalters. Er schlich sich aus dem Haus, ging tanzen. Das Verlangen nach einer Gefährtin war stärker als der hypnotische Bann. Aber die alte Frau wusste um die Macht des Geschlechtstriebs. Bei ihrem Beruf wird sie oft genug damit konfrontiert gewesen sein. Und so fand sie eine raffinierte Lösung: holte ein hübsches, aber mittelloses junges Mädchen ins Haus, begünstigte eine Heirat - und erwarb dadurch einen weiteren Sklaven.«

Sarah schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass die junge Mrs. Boynton ihre Sklavin ist.«

Gerard stimmte ihr zu.

»Nein, vermutlich nicht. Ich glaube, dass die alte Mrs. Boynton Nadines Willenskraft und Charakterstärke unterschätzte, weil sie ruhig und fügsam war. Nadine Boynton war damals noch zu jung und unerfahren, um die Situation richtig einzuschätzen. Inzwischen kennt sie sie genau, aber jetzt ist es zu spät.«

»Glauben Sie, dass sie die Hoffnung aufgegeben hat?«

Dr. Gerard schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Falls sie Pläne hat, dann weiß bestimmt niemand davon. Es gibt da gewisse Möglichkeiten, was Mr. Cope betrifft. Der Mensch ist von Natur aus eifersüchtig -und Eifersucht ist ein starker Antrieb. Lennox Boynton könnte noch aus der Lethargie zu reißen sein, in der er zu versinken droht.«

»Und Sie meinen« - Sarah bemühte sich bewusst um einen sachlichen und geschäftsmäßigen Ton -, »dass eine Chance besteht, dass ich bei Raymond etwas ausrichten könnte?«

»Ja.«

Sarah seufzte. »Ich hätte es ja versuchen können. Aber jetzt ist es sowieso zu spät. Im Übrigen ist mir ohnehin nicht ganz wohl dabei.«

Gerard schien amüsiert zu sein. »Weil Sie Engländerin sind! Die Engländer haben Komplexe, was das Sexuelle betrifft. Sie halten es für >nicht salonfähig <.«

Sarahs indignierte Reaktion beeindruckte ihn nicht.

»Aber es ist so! Ich weiß, dass Sie sehr modern sind, dass Sie in aller Öffentlichkeit die ungehörigsten Wörter benutzen, die Sie im Lexikon finden können, dass Sie nüchtern und absolut ungeniert sind! Tout de même behaupte ich, dass Sie sich nicht von Ihrer Mutter und Ihrer Großmutter unterscheiden. Sie sind noch immer die züchtig errötende englische Miss, auch wenn sie nicht mehr erröten!«

»Ich habe noch nie einen solchen Unsinn gehört!«

Mit einem verschmitzten Zwinkern und völlig ungerührt fügte Dr. Gerard hinzu: »Und Sie sehen dabei entzückend aus.«

Diesmal war Sarah sprachlos.

Dr. Gerard zog eilends den Hut. »Ich will mich lieber verabschieden«, sagte er, »bevor Sie Zeit haben, alles auszusprechen, was Ihnen jetzt im Kopf herumgeht.« Er verzog sich rasch ins Hotel.

Sarah folgte ihm langsam.

Vor dem Hotel herrschte ziemlich viel Betrieb. Mehrere mit Gepäck beladene Autos waren im Begriff abzufahren. Lennox und Nadine Boynton standen mit Mr. Cope neben einer schweren Limousine und überwachten die Vorbereitungen zur Abreise. Ein dicker Dragoman redete in einem kaum verständlichen Kauderwelsch auf Carol ein.

Sarah ging wortlos an ihnen vorbei und betrat das Hotel.

Mrs. Boynton saß, in einen dicken Mantel gehüllt, aufbruchbereit in einem Sessel. Als Sarah sie betrachtete, merkte sie, wie ihre Gefühle gegenüber der alten Frau plötzlich umschlugen. Sie hatte Mrs. Boynton für eine finstere Macht gehalten, für die Verkörperung heimtückischer Böswilligkeit.

Auf einmal sah sie in der alten Frau nur noch eine bemitleidenswerte, armselige Figur. Mit einer solchen Machtgier geboren zu sein, einem solchen Verlangen, andere zu beherrschen - und dann nichts weiter als ein kleiner Haustyrann zu werden! Wenn doch ihre Kinder sie so sehen könnten, wie Sarah sie in diesem Moment sah - ein Gegenstand des Mitleids, eine dumme, bösartige, armselige, sich aufspielende alte Frau. Sarah ging spontan zu ihr hinüber.

»Auf Wiedersehen, Mrs. Boynton«, sagte sie. »Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.«

Die alte Dame blickte auf. In ihren Augen kämpften Feindseligkeit und Empörung miteinander.