»Wahrscheinlich haben Sie Recht«, sagte Sarah trübsinnig. »Im Gedankenlesen scheinen Sie geradezu unverschämt gut zu sein. Ich versuche mir immer wieder etwas vorzumachen, und Sie hindern mich daran.«
In dem Moment kamen die anderen zurück. Der Erschöpfteste von den dreien schien der Führer zu sein. Er war ziemlich kleinlaut und gab auf der Fahrt nach Amman kaum Erklärungen von sich. Er erwähnte nicht einmal die Juden. Wofür alle zutiefst dankbar waren. Seine wortreichen und fanatischen Schilderungen ihrer Schandtaten hatten seit der Abfahrt in Jerusalem viel dazu beigetragen, jedermanns Nerven über Gebühr zu strapazieren.
Die kurvenreiche Straße schlängelte sich nun vom Jordantal bergauf, wo vereinzelte Oleanderbüsche ihre rosafarbenen Blüten entfalteten.
Sie erreichten Amman am späten Nachmittag und gingen, nach einer kurzen Besichtigung des griechisch-römischen Theaters, früh zu Bett. Sie wollten am nächsten Morgen beizeiten aufbrechen, da man für die Fahrt durch die Wüste nach Ma’an einen ganzen Tag brauchte.
Kurz nach acht Uhr fuhren sie los. Alle schienen ziemlich wortkarg zu sein. Der Tag war drückend heiß, und als sie gegen Mittag anhielten, um Picknick zu machen, herrschte eine wahrhaft brütende Hitze. Der Zwang, den ganzen heißen Tag lang mit drei anderen auf engstem Raum eingepfercht zu sein, stellte alle auf eine harte Probe.
Lady Westholme und Dr. Gerard hatten eine leicht gereizte Auseinandersetzung über den Völkerbund. Lady Westholme war eine glühende Verfechterin des Völkerbundes, wohingegen es dem Franzosen gefiel, gehörig über besagte Institution zu lästern. Nachdem die Haltung des Völkerbundes gegenüber Abessinien und Spanien ausgiebig erörtert worden war, kamen sie auf den litauischen Grenzkonflikt zu sprechen, von dem Sarah noch nie etwas gehört hatte, und danach auf die Maßnahmen besagten Völkerbundes, Drogenbanden das Handwerk zu legen.
»Sie müssen doch zugeben, dass da hervorragende Arbeit geleistet wird. Ungeheuer wichtige Arbeit!«, fauchte Lady Westholme.
Dr. Gerard zuckte mit den Schultern. »Mag sein. Aber auch mit einem ungeheuren finanziellen Aufwand!«
»Die Sache ist äußerst ernst. Das Betäubungsmittelgesetz besagt, dass.« Der Disput ging weiter.
Miss Pierce zwitscherte, an Sarah gewandt: »Es ist wirklich hochinteressant, mit Lady Westholme zu reisen.«
»Ach ja?«, sagte Sarah bissig, doch Miss Pierce schien den scharfen Ton nicht zu bemerken und plapperte munter weiter.
»Ich habe ihren Namen schon so oft in der Zeitung gesehen. Es ist einfach fabelhaft, dass Frauen in die Politik gehen und dort ihren Mann stehen. Ich bin immer so froh, wenn eine Frau etwas erreicht.«
»Warum?«, fragte Sarah hitzig.
Miss Pierce blieb der Mund offen stehen, und sie stammelte: »Oh, weil — ich meine — weil es — nun ja — weil es eben so schön ist, wenn Frauen etwas bewirken können!«
»Da bin ich anderer Meinung«, sagte Sarah. »Es ist schön, wenn ein Mensch ein lohnenswertes Ziel erreicht! Ganz gleich, ob das ein Mann oder eine Frau ist. Warum sollte das Geschlecht eine Rolle spielen?«
»Nun ja, gewiss.«, sagte Miss Pierce. »Ich muss zugeben — wenn man es natürlich so betrachtet.«
Aber ihr schien dabei nicht ganz wohl zu sein. Sarah sagte in freundlicherem Ton: »Es tut mir Leid, aber ich hasse nun einmal dieses Unterscheiden zwischen Mann und Frau. >Die moderne Frau hat eine durch und durch praktische Lebenseinstellung. < So in der Art. Aber das stimmt überhaupt nicht! Es gibt Frauen, die praktisch veranlagt sind, und andere, die es nicht sind. Es gibt Männer, die gefühlsbetont und verworren sind, und andere, die klar und logisch denken. Es ist alles nur eine Frage des Verstandes. Das Geschlecht spielt nur dort eine Rolle, wo es direkt um Sex geht.«
Bei dem Wort »Sex« errötete Miss Pierce ein wenig und wechselte geschickt das Thema.
»Man kann nicht umhin, sich nach ein klein wenig Schatten zu sehnen«, murmelte sie. »Dennoch finde ich, dass diese Leere etwas Wundervolles hat, meinen Sie nicht auch?«
Sarah nickte.
Ja, dachte sie, die Leere war tatsächlich wunderbar. Heilend und friedvoll. Keine Menschen, die einen mit ihren langweiligen zwischenmenschlichen Beziehungen nervten. Keine brennenden persönlichen Probleme! Erst jetzt hatte sie endlich das Gefühl, von den Boyntons frei zu sein. Befreit von dem seltsamen, unwiderstehlichen Drang, sich in das Leben von Leuten einzumischen, deren Welt die ihre nicht im Entferntesten berührte. Sie fühlte sich getröstet und mit sich selbst im Reinen. Hier war Einsamkeit, Leere, Weite. Und Frieden.
Nur, dass man eben nicht allein war, um es auch genießen zu können! Lady Westholme und Dr. Gerard hatten das Thema Rauschgift abgeschlossen und disputierten nun über arglose junge Frauen, die mittels übler Machenschaften in argentinische Nachtlokale verschleppt wurden. Dr. Gerard hatte während des ganzen Gesprächs eine Leichtfertigkeit an den Tag gelegt, die Lady Westholme, die wie alle waschechten Politiker keinerlei Sinn für Humor besaß, nur bedauerlich finden konnte.
»Wir jetzt fahren, ja?«, verkündete der Dragoman, dessen Kopf ein Fes zierte, und begann wieder über die Schandtaten der Juden zu lamentieren.
Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang erreichten sie schließlich Ma’an. Merkwürdige Männer mit wilden Gesichtern umringten den Wagen. Nach kurzem Aufenthalt ging die Fahrt weiter.
Bei der Betrachtung der ebenen Wüstenlandschaft fragte sich Sarah, wo hier eigentlich die Felsenstadt Petra liegen sollte. Rundum konnte man meilenweit sehen, doch da war nichts! Nirgendwo Berge, nicht einmal Hügel. Waren sie denn immer noch so weit vom Ziel ihrer Reise entfernt?
Sie erreichten das Dorf Wadi Musa, wo die Straße endete und man den Wagen zurücklassen musste. Dort warteten Pferde auf sie — klapprige, abgemagerte Tiere. Miss Pierce machte die Unzulänglichkeit ihres gestreiften Waschkleides sehr zu schaffen. Lady Westholme hatte sich vernünftigerweise für Breecheshosen entschieden, die ihre Figur zwar alles andere als vorteilhaft unterstrichen, aber zumindest praktisch waren.
Die Pferde wurden auf einem abschüssigen, mit Geröll bedeckten Pfad aus dem Dorf geführt. Das Gelände senkte sich, und die Pferde trotteten im Zickzack bergab. Es war kurz vor Sonnenuntergang.
Sarah war von der langen, heißen Autofahrt erschöpft. Sie fühlte sich wie betäubt. Der Ritt hatte etwas Unwirkliches. Als sie später daran zurückdachte, kam es ihr vor, als hätte sich der Schlund der Hölle vor ihren Füßen aufgetan. Der Weg wand sich hinab — hinab in die Tiefe. Um sie herum ragten Felsformationen auf — und es ging noch immer hinab, hinab ins Innere der Erde, durch ein Labyrinth roter Felswände, die sich nun zu beiden Seiten auftürmten. Sarah glaubte, ersticken zu müssen — erdrückt zu werden von der immer enger werdenden Schlucht.
Sie dachte benommen: Hinab in das Tal des Todes — hinab in das Tal des Todes.
Weiter und weiter. Es wurde dunkel — das kräftige Rot der Felswände verblasste — und immer weiter auf dem gewundenen Pfad, eingesperrt, verschwunden im Inneren der Erde.
Sie dachte: »Phantastisch und unglaublich. eine tote Stadt.«
Und wieder gingen ihr die Worte »das Tal des Todes« im Kopf herum.
Dann wurden Laternen angezündet. Die Pferde schoben sich durch die gewundenen engen Gänge. Plötzlich wichen die Felswände zurück, und sie traten in ein weites Tal hinaus. In der Ferne waren Lichter zu erkennen.