»Das ist Camp!«, sagte der Führer.
Die Pferde beschleunigten ihre Schritte — nicht sehr, denn dafür waren sie zu unterernährt und mutlos, aber sie ließen immerhin eine Spur von Begeisterung erkennen. Der Weg führte nun an einem ausgetrockneten Wadi entlang. Die Lichter kamen näher.
Sie konnten eine Gruppe von Zelten ausmachen und weiter oben, direkt am Fuß einer steilen Felswand, eine weitere Reihe. Und Höhlen, die in den Fels gehauen worden waren.
Sie waren am Ziel. Beduinische Diener kamen gelaufen.
Sarah starrte zu einer der Höhlen hinauf. Eine Gestalt zeichnete sich dort ab. Was mochte das sein? Ein Idol? Ein mächtiges kauerndes Götzenbild?
Nein, es war nur der flackernde Lichtschein, der die Figur so bedrohlich wirken ließ. Aber es musste irgendein Idol sein, was dort so regungslos verharrte und brütend herabblickte.
Und dann machte Sarahs Herz plötzlich einen Satz, und sie wusste, was dort saß.
Verflogen war das Gefühl von Ruhe und Frieden, von Ungebundenheit, das die Wüste ihr gegeben hatte. Sie war aus der Freiheit in die Gefangenschaft zurückgeführt worden. Sie war in dieses dunkle gewundene Tal hinuntergeritten, und hier saß, wie die Hohepriesterin eines vergessenen Kultes, wie ein monströser aufgedunsener weiblicher Buddha — Mrs. Boynton.
Elftes Kapitel
Mrs. Boynton war hier, hier in Petra!
Sarah gab mechanisch Antwort auf die Fragen, die man ihr stellte. Ob sie gleich zu Abend essen wolle — es sei alles bereit — oder ob sie sich erst frisch machen wolle? Ob sie lieber im Zelt oder in einer Höhle zu schlafen wünsche?
Die letzte Frage beantwortete sie, ohne zu zögern. Im Zelt. Der Gedanke an eine Höhle ließ sie zusammenzucken, und sie sah wieder die monströse kauernde Gestalt vor sich. (Wieso hatte man das Gefühl, dass diese Frau kaum menschliche Züge an sich hatte?)
Dann folgte sie einem der einheimischen Diener. Er trug khakifarbene Reithosen, die an mehreren Stellen geflickt waren, schlampige Wickelgamaschen und ein zerschlissenes Herrenjackett, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Dazu die Kefije, die traditionelle Kopfbedeckung der Beduinen, deren auch den Nacken bedeckende Fülle von einer eng um den Kopf geschlungenen schwarzen Seidenschnur zusammengehalten wurde. Sarah bewunderte den leichten, schwingenden Gang des Mannes, die selbstbewusste stolze Kopfhaltung. Geschmacklos und billig wirkten nur die europäischen Teile seiner Kleidung. Sie dachte: Zivilisation ist auch nicht das Wahre — nein, ganz und gar nicht! Wenn wir nicht so zivilisiert wären, gäbe es keine Mrs. Boynton! Bei den Wilden hätte man sie schon längst abgemurkst und verspeist!
Leicht belustigt gestand sie sich ein, dass sie übermüdet und gereizt war. Aber nachdem sie sich mit heißem Wasser gewaschen und etwas Puder aufgetragen hatte, war sie wieder sie selbst — beherrscht, ausgeglichen und von ihrer panikartigen Reaktion vorhin peinlich berührt.
Sie kämmte ihr dichtes schwarzes Haar und betrachtete sich dann im flackernden Licht einer kleinen Öllampe von allen Seiten in einem höchst unzulänglichen Spiegel.
Dann schlug sie die Plane am Eingang zurück und trat hinaus in die Nacht, um zu dem weiter unten gelegenen großen Gemeinschaftszelt zu gehen.
»Sie — hier?«
Es klang wie ein leiser Aufschrei, verblüfft, ungläubig.
Sie drehte sich um und blickte direkt in Raymond Boyntons Augen. Wie fassungslos sie sie ansahen! Aber da war noch etwas anderes, etwas, das Sarah sprachlos und beklommen machte. Eine unglaubliche Freude. als hätte der junge Mann einen Blick ins Paradies getan, so verwundert, benommen, dankbar, demütig! Ein Blick, den Sarah nie im Leben vergessen würde. Wie ein Verdammter, der aufschaut und das Paradies erspäht.
Er sagte noch einmaclass="underline" »Sie?«
Der leise, bebende Ton seiner Stimme rührte etwas in ihr an. Er drehte ihr das Herz im Leibe um. Er machte sie scheu, ängstlich, demütig — und erfüllte sie doch jäh mit stolzer Freude.
Sie sagte nur ein einziges Wort: »Ja.«
Er kam näher, noch immer wie betäubt, wollte es noch immer nicht glauben.
Dann griff er plötzlich nach ihrer Hand.
»Sie sind es wirklich«, sagte er. »Sie sind hier! Zuerst dachte ich, Sie seien ein Geist — weil ich ständig an Sie denken muss.« Er hielt inne und sagte dann: »Ich liebe Sie nämlich. Ich liebe Sie seit dem Augenblick, als ich Sie im Zug das erste Mal sah. Das weiß ich jetzt. Und ich möchte, dass Sie es wissen, damit Sie — damit Sie wissen, dass nicht ich es bin — dass es nicht mein wahres Ich ist, das sich — das sich wie ein Schuft benimmt. Sehen Sie, selbst jetzt kann ich nichts versprechen. Ich könnte — mir ist alles zuzutrauen! Es könnte sein, dass ich grußlos an Ihnen vorbeigehe oder Sie keines Blickes würdige, aber Sie sollen wissen, dass das nicht ich bin — dass dafür nicht mein wahres Ich verantwortlich ist. Es sind nur meine schwachen Nerven. Sie lassen mich oft im Stich. Wenn sie sagt, dass ich das und das tun soll — dann tu ich es! Dann kann ich einfach nicht anders! Bitte haben Sie Verständnis dafür. Verachten Sie mich, wenn Sie wollen — «
Sarah fiel ihm ins Wort. Leise und unerwartet sanft sagte sie: »Ich werde Sie deshalb nicht verachten.«
»Aber ich habe Ihre Verachtung verdient! Ich bin — unfähig, mich wie ein Mann zu benehmen.«
Teils war es die Erinnerung an Dr. Gerards Worte, mehr aber noch Sarahs eigenes Wissen und ihre Zuversicht, die ihre Antwort bestimmten und ihrer sanften Stimme einen Beiklang von Autorität und Überzeugungskraft verliehen. »Jetzt können Sie es.«
»Meinen Sie?« Es klang versonnen. »Vielleicht.«
»Jetzt haben Sie den Mut dazu. Das weiß ich.« Er richtete sich auf, warf den Kopf in den Nacken. »Mut? Ja, man muss nur den Mut aufbringen!« Plötzlich beugte er sich vor und berührte ihre Hand mit den Lippen. Gleich darauf war er gegangen.
Zwölftes Kapitel
Sarah ging hinunter zum Gemeinschaftszelt. Sie fand dort ihre drei Mitreisenden vor, die am Tisch saßen und aßen. Der Führer berichtete ihnen gerade, dass sich noch eine weitere Gruppe in Petra aufhielt.
»Sie kommen vor zwei Tage. Gehen Tag nach morgen. Amerikaner. Mutter sehr dick, sehr schwer herbringen! Träger tragen in Stuhl — sagen, sehr schwere Arbeit — viel heiß — ja.«
Sarah musste plötzlich laut lachen. So betrachtet hatte die ganze Sache durchaus auch ihre komischen Seiten!
Der beleibte Dragoman sah sie dankbar an. Er hatte es wirklich nicht leicht. Lady Westholme hatte ihn im Laufe des Tages dreimal anhand des Baedekers widerlegt, und jetzt hatte sie etwas an dem Bett auszusetzen, in dem sie nächtigen sollte. Er war daher dankbar, dass wenigstens ein Mitglied seiner Gruppe unerklärlicherweise gute Laune zu haben schien.
»Genau!«, sagte Lady Westholme. »Ich glaube, diese Leute waren auch im Solomon. Ich habe die Mutter gleich wieder erkannt, als wir hier eintrafen. Ich glaube mich zu erinnern, dass Sie im Hotel mit ihr gesprochen haben, Miss King.«
Sarah errötete schuldbewusst und konnte nur hoffen, dass Lady Westholme nicht allzu viel von dem bewussten Gespräch mit angehört hatte.
Sie fragte sich gequält, was um alles in der Welt damals nur in sie gefahren war.
Lady Westholme war unterdessen zu einem Urteil gelangt und verkündete: »Völlig uninteressante Leute. Sehr provinziell.«