Miss Pierce brachte kriecherisch eifrige Zustimmung zum Ausdruck, woraufhin Lady Westholme zu einer ausführlichen Schilderung diverser interessanter und prominenter Amerikaner ansetzte, denen sie in letzter Zeit begegnet war.
Da es für die Jahreszeit ungewöhnlich heiß war, wurde beschlossen, am nächsten Tag zeitig aufzubrechen.
Um sechs Uhr früh versammelten sich die vier zum Frühstück. Von den Boyntons war nichts zu sehen. Nachdem Lady Westholme sich höchst kritisch über das nicht vorhandene Obst geäußert hatte, begnügten sie sich mit Tee, Dosenmilch, in Fett schwimmenden Spiegeleiern und versalzenen Speckstreifen.
Danach machte man sich auf den Weg, auf dem Lady Westholme und Dr. Gerard — Letzterer mit deutlich weniger Begeisterung — die exakte Bedeutung von Vitaminen in der täglichen Kost sowie die richtige Ernährung der Arbeiterklasse erörterten.
Dann waren plötzlich Rufe aus der Richtung des Camps zu hören, und so blieb man stehen, um auf den Mann zu warten, der ihnen nachgeeilt kam. Es war Mr. Jefferson Cope, dessen sympathisches Gesicht von der Anstrengung des schnellen Laufens gerötet war.
»Entschuldigen Sie, aber wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich Ihnen heute Vormittag gerne anschließen. Guten Morgen, Miss King. Was für eine Überraschung, Sie und Dr. Gerard hier zu treffen! Na, was sagen Sie dazu?«
Er deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf die phantastischen roten Felsformationen, die sich rundherum ausdehnten.
»Es ist wunderschön und ein klein wenig Angst einflößend«, sagte Sarah. »Ich dachte immer, es wäre romantisch und verträumt — von wegen >die rosarote Stadt< und so. Aber es ist sehr viel realer, so real wie — wie ein rohes Beefsteak.«
»Und hat auch fast die gleiche Farbe«, pflichtete ihr Mr. Cope bei.
»Aber es ist wirklich großartig«, gab Sarah zu.
Es begann bergauf zu gehen. Die Gruppe wurde von zwei Beduinen geführt, hoch gewachsenen Männern von ungezwungener Körperhaltung, die in ihren Nagelschuhen gelassen und absolut trittsicher den abschüssigen Hang hinaufstiegen. Schon bald traten die ersten Schwierigkeiten auf. Sarah und Dr. Gerard waren beide schwindelfrei. Aber sowohl Mr. Cope als auch Lady Westholme wurde es doch etwas mulmig, und die arme Miss Pierce musste über die steileren Stellen geradezu getragen werden, während sie mit geschlossenen Augen und ganz grün im Gesicht unablässig vor sich hin jammerte: »Ich konnte noch nie nach unten schauen. Noch nie — schon als Kind nicht!«
Einmal äußerte sie die Absicht umzukehren, aber als sie zurückblickte und das Gefälle sah, wurde sie nur noch grüner und kam notgedrungen zu dem Schluss, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als weiterzugehen.
Dr. Gerard beruhigte und ermutigte sie. Er ging unmittelbar hinter ihr und hielt, wie eine Art Geländer, einen Stock zwischen sie und den gähnenden Abgrund. Miss Pierce musste zugeben, dass diese vorgetäuschte Sicherheit viel dazu beitrug, ihre Höhenangst zu überwinden.
Schwer atmend fragte Sarah den Dragoman, Mahmoud, dem trotz seiner Leibesfülle keinerlei Anzeichen von Erschöpfung anzumerken waren: »Haben Sie nie Probleme, wenn Sie Leute hier heraufführen? Zum Beispiel ältere Menschen?«
»Immer. Immer wir haben Problem«, bestätigte Mahmoud in aller Gemütsruhe.
»Nehmen Sie denn jeden mit?«
Mahmoud zog die schweren Schultern hoch. »Sie wollen hinauf. Sie haben bezahlt Geld, zu sehen viele Sachen. Darum sie wollen sehen alles. Die Beduinen sind sehr geschickt, sehr sicher auf Füßen. Sie bringen immer hinauf.«
Endlich erreichten sie den Gipfel. Sarah holte tief Luft.
Um sie herum und unter ihnen dehnten sich die blutroten Felsen aus — eine fremdartige und unglaubliche Landschaft, die absolut einmalig war. Hier oben, in der herrlichen reinen Morgenluft, standen sie wie Götter, die eine verachtenswerte Welt betrachten — eine Welt voll brodelnder Gewalt.
Dies war, wie der Führer ihnen erklärte, der »Opferplatz« — der »heilige Bezirk«. Er zeigte ihnen die Rinne, die in den glatten Boden zu ihren Füßen gehauen war.
Sarah entfernte sich von den anderen, von den oberflächlichen Phrasen, die dem Dragoman so flott über die Lippen kamen. Sie setzte sich auf einen Felsblock, schob mit beiden Händen ihr dichtes schwarzes Haar zurück und blickte hinunter auf die Welt, die zu ihren Füßen lag. Plötzlich merkte sie, dass jemand neben ihr stand. Dr. Gerard sagte: »Hier oben begreift man, wie zutreffend die Versuchung durch den Teufel im Neuen Testament ist. Der Teufel führte Jesus auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt. >Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest.< Wie groß muss da erst die Versuchung sein, ein Gott mit realer Macht zu werden.«
Sarah stimmte ihm zu, aber sie war so offensichtlich in Gedanken woanders, dass Gerard sie leicht erstaunt musterte.
»Sie grübeln über etwas nach«, stellte er fest.
»Allerdings.« Sie sah ihn mit leicht verwirrter Miene an. »Es war eine wunderbare Idee, hier oben eine Opferstätte zu errichten. Ich glaube nämlich, dass manchmal tatsächlich ein Opfer erforderlich ist... Ich will damit sagen, dass man auch zu viel Achtung vor dem Leben haben kann. Der Tod ist gar nicht so wichtig, wie wir tun.«
»Wenn das Ihre Meinung ist, Miss King, dann haben Sie den Beruf verfehlt. Für uns
Ärzte ist und bleibt der Tod immer der Feind.«
Sarah erschauerte. »Sie haben vermutlich Recht. Trotzdem kann der Tod auch Probleme lösen. Er kann sogar ein erfüllteres Leben zur Folge haben.«
»>Es ist besser, ein Mensch sterbe für das Volk, denn dass das ganze Volk verderbe!<«, zitierte Dr. Gerard mit ernster Stimme.
Sarah sah ihn bestürzt an.
»Ich wollte damit nicht sagen, dass — « Sie brach ab, da Jefferson Cope auf sie zukam.
»Also, das ist wirklich ein ganz erstaunlicher Ort«, verkündete er. »Wirklich erstaunlich. Ich bin froh, dass ich mir das nicht habe entgehen lassen. Mrs. Boynton ist gewiss eine höchst bemerkenswerte Frau — ihren Mumm und ihre Entschlossenheit, hierher zu kommen, kann man nur bewundern —, aber ich muss gestehen, dass es nicht gerade einfach ist, mit ihr zu reisen. Ihre Gesundheit ist nicht die beste, was verständlicherweise wohl der Grund dafür ist, dass sie wenig Rücksicht auf die Gefühle anderer nimmt, aber es scheint ihr einfach nicht in den Sinn zu kommen, dass ihre Familie gelegentlich mal gerne etwas ohne sie unternehmen würde. Sie ist es so gewöhnt, alle ständig um sich zu haben, dass sie gar nicht auf den Gedanken kommt, dass — «
Mr. Cope brach ab. Auf seinem freundlichen, sympathischen Gesicht zeichneten sich Verwirrung und Unbehagen ab.
»Wissen Sie«, sagte er, »ich habe da etwas über Mrs. Boynton erfahren, das mir ziemlich zu schaffen macht.«
Während Sarah wieder ihren eigenen Gedanken nachhing und Mr. Copes Stimme nur angenehm wie das beruhigende Plätschern eines fernen Baches an ihr Ohr drang, reagierte Dr. Gerard sofort: »Ach ja? Was denn?«
»Ich hörte es von einer Dame, mit der ich im Hotel in Tiberias ins Gespräch kam. Es ging dabei um ein Dienstmädchen, das bei Mrs. Boynton angestellt war. Das Mädchen soll — sie war wohl — «
Mr. Cope hielt inne, warf feinfühlig einen Blick auf Sarah und senkte die Stimme. »Sie hat ein Kind erwartet. Die alte Dame kam anscheinend dahinter, war aber offenbar sehr nett zu der jungen Frau. Aber ein paar Wochen, bevor das Kind geboren wurde, hat sie sie hinausgeworfen. «
Dr. Gerard zog die Augenbrauen hoch. »Sieh an«, sagte er nachdenklich.
»Die Dame, die es mir erzählt hat, schien sich ihrer Sache absolut sicher zu sein. Ich weiß ja nicht, ob Sie mir zustimmen, aber ich finde ein solches Verhalten grausam und herzlos. Ich verstehe nicht, wie — «