Dr. Gerard unterbrach ihn.
»Sie sollten es aber versuchen. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass Mrs. Boynton ihre diebische Freude daran hatte.«
Mr. Cope sah ihn schockiert an.
»Nein, Sir«, sagte er entschieden. »Das glaube ich einfach nicht. So etwas ist absolut unvorstellbar.«
Mit ruhiger Stimme zitierte Dr. Gerard: »Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschieht unter der Sonne; und siehe, da waren Tränen derer, so Unrecht litten, und hatten keinen Tröster; und die ihnen Unrecht taten, waren zu mächtig, dass sie keinen Tröster haben konnten. Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr denn die Lebendigen, die noch das Leben hatten; und besser denn alle beide ist, der noch nicht ist und des Bösen nicht innewird, das unter der Sonne geschieht.«
Er brach ab und sagte: »Sehen Sie, mein Lieber, ich beschäftige mich seit Jahren mit den seltsamen Dingen, die in der menschlichen Psyche vorgehen. Es nützt nichts, nur die schönere Seite des Lebens zu betrachten. Unter der Wohlanständigkeit und den Konventionen des täglichen Lebens liegt ein gewaltiges Reservoir seltsamer Dinge. Da gibt es beispielsweise so etwas wie die Lust, Grausamkeiten um ihrer selbst willen zu begehen. Aber wenn Sie auf sie stoßen, dann verbirgt sich dahinter noch etwas anderes. Das triebhafte und Mitleid erregende Verlangen nach Anerkennung. Wenn dieses Verlangen nicht befriedigt wird, wenn der betreffende Mensch aufgrund seiner Persönlichkeit unfähig ist, die Anerkennung zu finden, die er braucht, dann greift er zu anderen Mitteln — denn er muss Eindruck machen, er muss Erfolg haben —, was wiederum unzählige Perversionen zur Folge hat. Der Hang zur Grausamkeit lässt sich ebenso kultivieren wie jeder andere, er kann von einem Menschen Besitz ergreifen — «
Mr. Cope hüstelte. »Ich glaube, dass Sie da doch etwas übertreiben, Dr. Gerard. Also die Luft hier oben ist wirklich herrlich.«
Er zog sich zurück. Gerard musste lächeln. Er warf einen Blick auf Sarah. Ihre Stirn war gerunzelt, und in ihrem Gesicht zeichnete sich jugendliche Entschlossenheit ab. Gerard fand, dass sie aussah wie eine junge Richterin, die im Begriff ist, das Urteil zu verkünden.
Er drehte sich um, da Miss Pierce auf unsicheren Beinen auf ihn zugetrippelt kam.
»Wir wollen wieder hinunter«, plapperte sie aufgeregt. »Du meine Güte, das schaffe ich bestimmt nie und nimmer, aber der Führer sagt, dass wir eine andere Route nehmen, die viel leichter ist. Ich will es hoffen, denn ich konnte schon als Kind nicht in die Tiefe schauen.«
Der Abstieg führte an einem Wasserfall entlang. Der Weg war zwar mit Geröll bedeckt, so dass man aufpassen musste, dass man sich nicht den Knöchel verstauchte, aber er bot immerhin keine Schwindel erregenden Ausblicke.
Kurz nach zwei Uhr nachmittags traf die Gruppe müde, aber in guter Stimmung und mit einem Bärenhunger im Camp ein.
An dem großen Tisch im Gemeinschaftszelt saß die Familie Boynton. Sie war gerade mit dem Mittagessen fertig.
Lady Westholme ließ sich dazu herab, einige huldvolle Worte an sie zu richten.
»Ein höchst interessanter Vormittag«, sagte sie. »Petra ist in der Tat ein wunderschönes Fleckchen Erde.«
Carol, an die die Worte gerichtet zu sein schienen, warf rasch einen Blick auf ihre Mutter, murmelte: »O ja — ja, das ist es«, und verstummte wieder.
Nachdem Lady Westholme dem Anstand somit Genüge getan hatte, konnte sie sich getrost ihrem Essen widmen.
Während die vier aßen, wurden die Pläne für den Nachmittag erörtert.
»Ich glaube, ich werde mich heute Nachmittag vor allen Dingen ausruhen«, sagte Miss Pierce. »Man darf sich auf keinen Fall zu viel zumuten.«
»Ich werde losziehen und die Umgebung erkunden«, sagte Sarah. »Und Sie, Dr. Gerard?«
»Ich werde Sie begleiten.«
Mrs. Boynton ließ mit so lautem Geklapper ihren Löffel fallen, dass alle zusammenfuhren.
»Ich glaube«, sagte Lady Westholme, »dass ich Ihrem Beispiel folgen werde, Miss Pierce. Ich werde ein halbes Stündchen lesen, mich dann hinlegen und mindestens eine Stunde schlafen. Danach vielleicht ein kleiner Spaziergang.«
Mühsam, und mit Lennox’ Hilfe, erhob sich die alte Mrs. Boynton langsam von ihrem Stuhl. Sie blieb einen Moment stehen und sagte dann in überraschend liebenswürdigem Ton: »Ihr solltet heute Nachmittag alle einen Spaziergang machen.«
Es war geradezu grotesk, die verblüfften Gesichter ihrer Angehörigen zu beobachten.
»Und was ist mit dir, Mutter?«
»Ich brauche euch nicht. Ich bin gerne allein, wenn ich lese. Jinny bleibt besser hier. Sie wird sich hinlegen und schlafen.«
»Aber ich bin nicht müde, Mutter! Ich möchte auch mitgehen!«
»Du bist müde. Und du hast Kopfschmerzen. Du musst auf deine Gesundheit achten. Geh und leg dich hin. Ich weiß schließlich, was gut für dich ist.«
»Ich — ich — «
Jinny hatte den Kopf in den Nacken geworfen und sah ihre Mutter rebellisch an. Dann schlug sie die Augen nieder, verlor den Mut.
»Dummes Kind«, sagte Mrs. Boynton. »Geh in dein Zelt!«
Sie humpelte schwerfällig hinaus, und die anderen folgten ihr.
»Du meine Güte«, sagte Miss Pierce. »Was sind das nur für Leute! Und diese befremdliche Gesichtsfarbe — der Mutter, meine ich. Richtig violett. Wahrscheinlich das Herz. Die Hitze macht ihr bestimmt zu schaffen.«
Sarah dachte: »Sie gibt ihnen heute Nachmittag frei. Sie weiß, dass Raymond mit mir zusammen sein möchte. Warum tut sie das? Was steckt dahinter?«
Diese Frage beschäftigte sie auch nach dem Mittagessen noch, als sie in ihr Zelt ging und ein frisches Leinenkleid anzog. Aus ihren Gefühlen für Raymond war seit dem Vorabend leidenschaftliche und beschützende Zuneigung geworden. Das also war Liebe — diese Qualen, die man für einen anderen litt, dieser brennende Wunsch, dem geliebten Wesen um jeden Preis Kummer zu ersparen. Ja, sie liebte Raymond Boynton. Und es war genau umgekehrt wie bei dem heiligen Georg und dem Drachen. Hier war sie der Retter und Raymond das wehrlose Opfer.
Und Mrs. Boynton war der Drache. Ein Drache, dessen plötzliche Liebenswürdigkeit für die misstrauische Sarah etwas entschieden Finsteres hatte.
Es war ungefähr Viertel nach drei, als Sarah wieder zum Gemeinschaftszelt hinunterschlenderte.
Lady Westholme saß auf einem Stuhl. Trotz der großen Hitze trug sie noch immer ihren strapazierfähigen Rock aus HarrisTweed. Auf ihrem Schoß lag der Bericht eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Dr. Gerard unterhielt sich mit Miss Pierce, die vor ihrem Zelt stand und ein Buch in der Hand hielt, das »Sehnsucht nach Liebe« hieß und auf dem Klappentext als ein spannender Roman über die Irrungen und Wirrungen einer großen Leidenschaft beschrieben wurde.
»Ich halte es nicht für klug, sich unmittelbar nach dem Mittagessen hinzulegen«, erklärte Miss Pierce. »Wegen der Verdauung, wissen Sie. Und im Schatten des Zeltes ist es geradezu angenehm kühl. Du meine Güte, ist das nicht ziemlich unvernünftig von der alten Dame, dort oben in der prallen Sonne zu sitzen?«
Alle blickten zu dem Felsvorsprung hinauf. Mrs. Boynton saß wie am Vorabend reglos wie ein Buddha vor dem Eingang ihrer Höhle. Außer ihr war niemand zu sehen. Alle im Camp Beschäftigten schliefen. Nur etwas weiter weg war eine kleine Gruppe unterwegs, die talaufwärts ging.
»Die liebe Mama scheint ihnen ausnahmsweise zu erlauben, sich einmal allein zu vergnügen«, sagte Dr. Gerard. »Oder ist das nur eine weitere Gemeinheit von ihr?«
»Genau das habe ich mich gerade auch gefragt«, sagte Sarah.
»Dass wir immer gleich das Schlimmste annehmen müssen! Kommen Sie, schließen wir uns den Ausreißern an.«