»Wer weiß.«
»Carol, wenn du lieber - «
Sie stieß seinen tröstenden Arm weg.
»Nein, ich bin dabei - ich stehe auf deiner Seite! Schon allein wegen der anderen - vor allem wegen Jinny. Wir müssen Jinny retten!«
Nach einer Weile sagte Raymond: »Dann
- ziehen wir die Sache also durch?«
»Ja!«
»Gut. Mein Plan sieht folgendermaßen aus.«
Er beugte sich dicht zu ihr.
Zweites Kapitel
Miss Sarah King, Doktor der Medizin, stand im Lesezimmer des Hotels Solomon in Jerusalem und blätterte in den auf einem Tisch ausliegenden Zeitungen und Zeitschriften. Ihre Stirn war gerunzelt, und sie schien in Gedanken woanders zu sein.
Der hoch gewachsene Franzose mittleren Alters, der den Raum von der Halle her betrat, beobachtete sie eine Weile, bevor er zum anderen Ende des Tisches schlenderte. Als sich ihre Blicke trafen, neigte Sarah lächelnd den Kopf, da sie ihn wieder erkannte. Der Mann war ihr bei der Abreise aus Kairo behilflich gewesen und hatte einen ihrer Koffer getragen, als kein Gepäckträger verfügbar zu sein schien.
»Nun, wie gefällt Ihnen Jerusalem?«, fragte Dr. Gerard, nachdem sie sich begrüßt hatten.
»In mancher Beziehung ist die Stadt grässlich«, sagte Sarah und fügte hinzu: »Religion ist schon etwas Merkwürdiges!«
Der Franzose schien amüsiert zu sein.
»Ich weiß, was Sie meinen.« Sein Englisch war nahezu perfekt. »Alle erdenklichen Sekten, die miteinander streiten und sich gegenseitig bekriegen!«
»Und dazu die scheußlichen Sachen, die sie hier gebaut haben!«, sagte Sarah.
»O ja!«
Sarah seufzte. »Man hat mich heute aus einer Kirche gewiesen, weil ich ein ärmelloses Kleid anhatte«, sagte sie kleinlaut. »Anscheinend gefallen dem Allmächtigen meine Arme nicht, obwohl er sie doch selbst geschaffen hat.«
Dr. Gerard lachte. Dann sagte er: »Ich wollte mir gerade einen Kaffee bestellen. Sie leisten mir doch Gesellschaft, Miss - ?«
»King. Sarah King.«
»Und ich bin - Sie gestatten.« Er überreichte schwungvoll seine Visitenkarte. Als Sarah sie las, weiteten sich ihre Augen vor ehrfürchtiger Bewunderung.
»Dr. Theodore Gerard? Oh! Ich freue mich ja so, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe selbstverständlich alle Ihre Bücher gelesen. Ihre Ansichten über Schizophrenie sind wahnsinnig interessant.«
»Wieso selbstverständlich?« Gerard zog fragend die Augenbrauen hoch.
Sarah erklärte es ihm leicht befangen. »Weil ich - nun, weil ich selbst Ärztin bin. Ich habe gerade mein Examen gemacht.«
»Ah! Ich verstehe.«
Dr. Gerard bestellte Kaffee, und sie nahmen in einer Ecke des Salons Platz. Das Interesse des Franzosen galt nicht so sehr Sarahs medizinischen Fähigkeiten, sondern vielmehr ihrem schwarzen Haar, das in dichten Wellen herabfiel, und dem wundervoll geschwungenen roten Mund. Die ehrfürchtige Scheu, mit der sie ihn betrachtete, amüsierte ihn.
»Bleiben Sie länger hier?«, fragte er, um ein Gespräch in Gang zu bringen.
»Nur ein paar Tage. Danach will ich nach Petra fahren.«
»Ah! Daran habe ich auch schon gedacht, falls es nicht zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Ich muss nämlich am vierzehnten in Paris sein.«
»Man braucht dafür etwa eine Woche, glaube ich. Zwei Tage für die Hinreise, zwei Tage am Ort und zwei weitere Tage für die Rückreise.«
»Ich werde gleich morgen Vormittag zum Reisebüro gehen und mich erkundigen, ob sich etwas arrangieren lässt.«
Eine Gruppe von Gästen betrat den Salon und nahm Platz. Sarah beobachtete sie interessiert. Sie senkte die Stimme.
»Die Leute, die gerade hereingekommen sind - haben Sie die nicht auch schon im Zug gesehen? Sie sind gleichzeitig mit uns aus Kairo abgereist.«
Dr. Gerard klemmte sein Monokel ein und blickte zu der besagten Gruppe hinüber. »Amerikaner?«
Sarah nickte.
»Ja. Eine amerikanische Familie. Aber eine - ziemlich ungewöhnliche, würde ich sagen.«
»Ungewöhnlich? In welcher Beziehung?«
»Sehen Sie sie sich doch an. Insbesondere die alte Frau.«
Dr. Gerard kam der Aufforderung nach. Sein scharfer geschulter Blick glitt rasch von Gesicht zu Gesicht.
Als Erstes fiel ihm ein großer, ziemlich schlaksiger Mann auf, Alter etwa dreißig. Sein Gesicht war sympathisch, aber etwas zu weich, und er wirkte seltsam abwesend. Dann waren da zwei gut aussehende junge Leute. Der Bursche hatte ein geradezu griechisches Profil. »Auch bei ihm scheint etwas nicht zu stimmen«, dachte Dr. Gerard. »Ja - ein klarer Fall von hochgradiger Nervosität.« Das Mädchen war offensichtlich seine Schwester, da eine große Ähnlichkeit vorlag, und auch sie befand sich in einem Zustand höchster Erregtheit. Dann war da noch ein weiteres Mädchen, jünger als die anderen, mit rotblonden Haaren, die sich wie ein Heiligenschein abhoben. Ihre Hände waren ständig in Bewegung, rissen und zerrten an dem Taschentuch, das sie auf dem Schoß hielt. Und eine Frau, jung, ruhig, dunkelhaarig, mit hellem Teint und dem sanften Gesicht einer Madonna von Luini. An ihr war nun überhaupt nichts Hektisches! Und im Zentrum der Gruppe -Großer Gott!, dachte Dr. Gerard mit dem ehrlichen Abscheu des typischen Franzosen. »Was für ein entsetzliches Weib!« Alt und fett und aufgedunsen saß sie regungslos im Kreis ihrer Familie - ein hässlicher alter Buddha, eine fette Spinne in ihrem Netz!
An Sarah gewandt sagte er: »La maman ist nicht gerade eine Schönheit, wie?«, und zuckte die Schultern.
»Sie hat so etwas - etwas Unheimliches, finden Sie nicht auch?«, meinte Sarah.
Dr. Gerard musterte die Frau erneut. Diesmal mit dem Auge des Arztes, nicht des Ästheten.
»Wassersucht. Kardiale Hydropsie«, setzte er im Fachjargon hinzu.
»Ja, sicher, das auch.« Sarah tat den medizinischen Aspekt als unwesentlich ab. »Aber das Verhalten der anderen ihr gegenüber ist irgendwie merkwürdig, finden Sie nicht?«
»Wissen Sie, wer die Leute sind?«
»Sie heißen Boynton. Mutter, verheirateter Sohn mit Frau, ein jüngerer Sohn und zwei jüngere Töchter.«
Dr. Gerard murmelte: »La famille Boynton auf Weltreise.«
»Eine merkwürdige Art, die Welt zu sehen. Sie reden nie mit anderen. Und alle scheinen nur das zu tun, was die alte Frau sagt!«
»Sie ist der Typ der Matriarchin«, sagte Gerard nachdenklich.
»Sie ist ein ausgemachter Tyrann, wenn Sie mich fragen«, sagte Sarah.
Dr. Gerard bemerkte achselzuckend, dass in Amerika die Frau das Heft in der Hand habe - wie ja allgemein bekannt sei.
»Ja, sicher, aber es ist nicht nur das«, beharrte Sarah. »Sie ist - sie hat alle so unter ihrer Fuchtel - hält alle so an der Kandare, dass - dass es geradezu pervers ist!«
»Zu viel Macht zu haben bekommt Frauen nicht«, stimmte Gerard, plötzlich ernst geworden, zu und schüttelte den Kopf.
»Es ist schwer für eine Frau, ihre Macht nicht zu missbrauchen.« Gerard sah sie schnell von der Seite an. Sie beobachtete die Boyntons - oder vielmehr ein bestimmtes Mitglied der Familie. Der Franzose in Dr. Gerard musste verständnisvoll lächeln. Aha! Das war es also!
Er erkundigte sich zögernd: »Sie haben mit ihnen gesprochen?«
»Ja - zumindest mit einem von ihnen.«
»Mit dem jungen Mann - dem jüngeren Sohn?«
»Ja. Im Zug von El-Kantara hierher. Er stand im Gang. Da habe ich ihn angesprochen. «
Sarahs Einstellung gegenüber dem Leben war offen und unbefangen. Sie interessierte sich für Menschen und war von Natur aus freundlich, wenn auch ungeduldig.