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»Eine zwingende psychologische Schlussfolgerung, wie man sie besser nicht finden kann!«, hatte Race bezüglich der Aufklärung des Mordfalls Shaitana geschrieben.

»Wir müssen Ihnen möglichst viel von der Umgebung zeigen«, sagte Carbury und zwirbelte seinen struppigen grau melierten Schnurrbart. Er war ein nachlässig gekleideter, untersetzter Mann mittlerer Größe mit Halbglatze und ausdruckslosen, sanften blauen Augen. Er sah überhaupt nicht wie ein Offizier aus. Er sah nicht einmal besonders hell aus. Und er entsprach in keiner Hinsicht dem, was man sich unter einem strengen Vorgesetzten vorstellt. Dennoch war er ein mächtiger Mann in Transjordanien.

»Da wäre zum Beispiel Gerasa«, sagte er. »Interessiert Sie so was?«

»Ich interessiere mich für alles!«

»Ja«, sagte Carbury. »Das ist die einzig richtige Einstellung im Leben.« Er hielt inne.

»Sagen Sie«, fuhr er fort, »stellen Sie gelegentlich fest, dass Ihr ganz spezieller Beruf Sie immer wieder einholt?«

»Pardon?«

»Anders herum gefragt:    Passiert es Ihnen, dass Sie irgendwo hinkommen, um Urlaub vom Verbrechen zu machen — und plötzlich tauchen überall Leichen auf?«

»Dergleichen ist schon vorgekommen; mehr als einmal.«

»Hm«, murmelte Colonel Carbury und wirkte noch geistesabwesender als sonst.

Dann gab er sich einen Ruck. »Ich habe da nämlich eine Leiche, bei der mir nicht ganz wohl ist«, sagte er.

»Tatsächlich? «

»Ja. Hier in Amman. Eine alte Amerikanerin. Fuhr mit ihrer Familie nach Petra. Strapaziöse Reise, ungewöhnlich heiß für die Jahreszeit, hatte Herzprobleme, die alte Frau, die Reise war wohl doch ein bisschen anstrengender, als sie sich das vorgestellt hatte, übermäßige Belastung für ihr Herz — und da ist sie hops gegangen!«

»Hier — in Amman?«

»Nein, unten in Petra. Die Leiche wurde heute hergebracht.«

»Ah!«

»Alles ganz normal. Absolut möglich. So was passiert ja alle Tage. Nur dass.«

»Ja? Nur dass?«

Colonel Carbury kratzte sich den fast kahlen Schädel.

»Ich habe das dumme Gefühl«, sagte er, »dass ihre Familie sie abgemurkst hat!«

»Aha! Und wie kommen Sie darauf?«

Colonel Carbury beantwortete Poirots Frage nicht direkt.

»Unangenehme Person, wie es scheint. Kein großer Verlust. Ganz allgemein scheint jeder froh zu sein, dass sie das Zeitliche gesegnet hat. Wird extrem schwierig werden, etwas nachzuweisen, solange die Familie zusammenhält und notfalls lügt wie gedruckt. Man will ja keine Unannehmlichkeiten — oder internationale Verwicklungen. Das Einfachste wäre, die Finger davon zu lassen! Habe im Grunde ja nichts in der Hand. Ich kannte da mal einen Arzt. Der hat mir erzählt, dass er bei Todesfällen oft misstrauisch ist — dass da Patienten vor ihrer Zeit ins Jenseits befördert wurden. Und der sagte, dass man am besten den Mund hält, wenn man nicht verdammt gute Anhaltspunkte hat! Weil es sonst bloß Stunk gibt, nichts nachzuweisen ist und ein anständiger und gewissenhafter Mediziner bloß in Verruf gerät. So was in der Richtung. Trotzdem.« Er kratzte sich wieder den Kopf. »Ich bin nun mal ein ordentlicher Mensch«, setzte er wider Erwarten hinzu.

Colonel Carburys Krawattenknoten hing unter dem linken Ohr, seine Socken warfen Falten, sein Jackett war schmuddelig und abgewetzt. Dennoch lächelte Hercule Poirot nicht. Er hatte die methodische Arbeitsweise von Colonel Carburys Verstand genau erkannt, seine logische Auflistung der Fakten, seine sorgfältig geordneten Eindrücke.

»Ja. Ich bin ein ordentlicher Mensch«, sagte Carbury. Er machte eine vage Handbewegung. »Kann Unordnung nun mal nicht leiden. Wenn wo Unklarheit herrscht, muss ich sie einfach beseitigen. Verstehen Sie das?«

Hercule Poirot nickte ernst. Er konnte das gut verstehen.

»Es gab keinen Arzt dort unten?«, fragte er.

»Doch, zwei sogar. Einer davon lag allerdings mit Malaria im Bett. Bei dem anderen handelt es sich um eine junge Frau — hat gerade erst ihr Medizinstudium abgeschlossen. Scheint aber ihr Handwerk zu verstehen. Der Tod selbst war nicht weiter ungewöhnlich. Die alte Frau hatte ein schwaches Herz. Hatte schon seit Jahren Herzmittel genommen. Also nicht sonderlich überraschend, dass sie plötzlich den Löffel wegschmeißt.«

»Was beunruhigt Sie dann, mein Freund?«, fragte Poirot sanft.

Colonel Carburys blaue Augen blickten ihn gequält an.

»Schon mal von einem Franzosen namens Gerard gehört? Theodore Gerard?«

»Gewiss. Eine Kapazität auf seinem Gebiet.«

»Klapsmühlen«, bestätigte Colonel Carbury. »Wenn man sich mit vier Jahren in die Putzfrau verknallt, hält man sich mit achtunddreißig für den Erzbischof von Canterbury. Ich habe zwar nie kapiert, wieso und warum, aber diese Psychofritzen können es sehr überzeugend erklären.«

»Dr. Gerard ist zweifellos eine Autorität, was bestimmte Formen schwerer Psychosen betrifft«, pflichtete Poirot lächelnd bei. »Ist er — äh — sind seine — gehen seine Ansichten über den Vorfall in Petra in diese Richtung?«

Colonel Carbury schüttelte entschieden den Kopf.

»Nein, nein. Wenn dem so wäre, würde ich mir ja keine Sorgen machen! Nicht, dass ich überhaupt nichts davon halte. Es sind nur einfach Dinge, die ich nicht verstehe — so wie bei einem meiner Beduinen, der mitten in der Wüste aus dem Auto steigen kann, mit der Hand über den Boden fährt und Ihnen fast auf die Meile genau sagt, wo Sie sind. Das hat nichts mit Zauberei zu tun, aber mir kommt es so vor. Nein, Dr. Gerards Aussage ist eindeutig. Nur nackte Tatsachen. Falls es Sie interessiert — und es interessiert Sie doch, oder?«

»Aber ja!«

»Großartig. Dann rufe ich kurz an und lasse Gerard holen, damit Sie alles von ihm selbst hören können.«

Nachdem der Colonel einen Burschen losgeschickt hatte, sagte Poirot: »Wer sind die Angehörigen der Toten?«

»Sie heißen Boynton. Zwei Söhne, einer davon verheiratet. Seine Frau sieht ausgesprochen gut aus — ruhiger, vernünftiger Typ. Und zwei Töchter. Beide ziemlich hübsch, aber auf ganz unterschiedliche Art. Die jüngere ist ein bisschen überdreht — könnte aber auch der Schock sein.«

»Boynton«, sagte Poirot. Er runzelte die Stirn. »Das ist merkwürdig — sehr merkwürdig. «

Carbury sah ihn fragend an. Aber da Poirot nichts weiter sagte, fuhr er fort: »Scheint ziemlich klar zu sein, dass die Mutter ein Drachen war. Musste hinten und vorne bedient werden und ließ alle um sich herumscharwenzeln. Und sie hatte den Daumen auf dem Geldbeutel. Keiner von der Familie besaß auch nur einen Penny.«

»Ah! Wirklich sehr interessant. Weiß man, wem sie ihr Geld hinterlassen hat?«

»Genau die Frage habe ich auch gestellt — ganz nebenbei, versteht sich. Es wird zu gleichen Teilen unter den Kindern aufgeteilt.«

Poirot nickte bedächtig. Dann fragte er: »Sie sind also der Meinung, dass alle unter einer Decke stecken?«

»Keine Ahnung. Genau da liegt ja der Haken! Ob die Sache gemeinsam geplant und ausgeführt wurde oder ob einer allein diesen glänzenden Einfall hatte — das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Vielleicht ist das Ganze auch nur ein Windei! Kurz und gut, es läuft auf Folgendes hinaus: Ich hätte gern Ihre Meinung als Fachmann gehört. Ah, da kommt Gerard.«

Zweites Kapitel

Der Franzose kam mit schnellen, aber keineswegs hastigen Schritten herein. Während er Colonel Carbury die Hand schüttelte, warf er einen scharfen, neugierigen Blick auf Poirot. Carbury sagte: »Das ist Monsieur Hercule Poirot. Ist gerade bei mir zu Besuch. Habe mit ihm über die Angelegenheit unten in Petra gesprochen.«