»Ach ja?« Gerards flinke Augen musterten Poirot von Kopf bis Fuß. »Die Sache interessiert Sie?«
Hercule Poirot hob beide Hände hoch. »Das Interesse für das eigene metier ist leider unheilbar.«
»Stimmt«, sagte Gerard.
»Etwas zu trinken?«, fragte Carbury.
Er schenkte einen Whisky Soda ein und setzte ihn Gerard vor. Er hielt die Karaffe fragend hoch, doch Poirot schüttelte den Kopf. Colonel Carbury stellte sie ab und rückte seinen Stuhl etwas näher.
»Also«, sagte er, »wo waren wir?«
»Wie ich höre«, sagte Poirot zu Gerard, »hat Colonel Carbury gewisse Vorbehalte.«
Gerard machte eine viel sagende Handbewegung.
»Und das«, sagte er, »ist allein meine Schuld! Dabei könnte ich durchaus Unrecht haben. Bitte vergessen Sie nicht, Colonel Carbury, dass ich Unrecht haben könnte.«
Carbury grunzte nur.
»Geben Sie Poirot die Fakten«, sagte er.
Dr. Gerard begann mit einer knappen Zusammenfassung der Ereignisse, die der Reise nach Petra vorausgegangen waren. Er skizzierte kurz die einzelnen Mitglieder der Familie Boynton und beschrieb den Zustand emotionaler Anspannung, in dem sich alle befunden hatten.
Poirot hörte aufmerksam zu.
Dann schilderte Gerard die Ereignisse des ersten Tages in Petra und erläuterte, weshalb er ins Lager zurückgekehrt war.
»Ich hatte einen schweren Malariaanfall — Malaria cerebralis«, erklärte er. »Ich beschloss daher, mir intravenös Chinin zu injizieren. Das ist die übliche Behandlungsmethode.«
Poirot nickte zustimmend.
»Das Fieber war schon ziemlich hoch. Ich wankte geradezu in mein Zelt. Zuerst konnte ich nirgendwo meine Reiseapotheke finden, irgendjemand hatte sie an einen anderen Platz gestellt. Als ich sie dann gefunden hatte, konnte ich nirgends meine Spritze finden. Ich suchte eine Weile, gab es dann auf und nahm oral eine hohe Dosis Chinin ein und warf mich aufs Bett.«
Gerard hielt kurz inne und fuhr dann fort: »Mrs. Boyntons Tod wurde erst nach Sonnenuntergang entdeckt. Aufgrund der Art und Weise, wie sie dasaß und wie der Stuhl ihren Körper stützte, hatte sich an ihrer Haltung nichts verändert, und so bemerkte man erst, als einer der Boys sie um halb sieben zum Abendessen holen wollte, dass etwas nicht stimmte.«
Er schilderte detailliert die Lage der Höhle und die Entfernung zwischen Höhle und Gemeinschaftszelt.
»Miss King, die ausgebildete Ärztin ist, untersuchte die Tote. Sie wollte mich nicht stören, da sie wusste, dass ich Fieber hatte. Außerdem konnte man ohnehin nichts mehr tun. Mrs. Boynton war tot — und das schon seit einiger Zeit.«
Poirot murmelte: »Wie lange genau?«
Gerard sagte langsam: »Ich glaube nicht, dass Miss King dieser Frage besondere Aufmerksamkeit schenkte. Sie hielt sie, meiner Meinung nach, nicht für wichtig.«
»Kann man wenigstens mit Bestimmtheit sagen, wann sie zuletzt lebend gesehen wurde?«, fragte Poirot.
Colonel Carbury räusperte sich und griff nach einem amtlich aussehenden Schriftstück.
»Lady Westholme und Miss Pierce sprachen kurz nach vier Uhr nachmittags mit Mrs. Boynton. Lennox Boynton sprach gegen halb fünf mit seiner Mutter. Etwa fünf Minuten später hatte Mrs. Lennox Boynton ein längeres Gespräch mit ihr. Auch Carol Boynton wechselte einige Worte mit ihrer Mutter, kann aber nicht genau sagen, wann — nach Aussagen anderer scheint das etwa zehn Minuten nach fünf gewesen zu sein. Jefferson Cope, ein amerikanischer Freund der Familie, der mit Lady Westholme und Miss Pierce ins Camp zurückkam, sah, dass sie schlief. Er sprach sie also nicht an. Das war ungefähr zwanzig Minuten vor sechs. Der Letzte, der sie lebend gesehen hat, scheint Raymond Boynton gewesen zu sein, der jüngere Sohn. Er kam etwa zehn Minuten vor sechs von einem Spaziergang zurück und sprach mit ihr. Entdeckt wurde die Leiche um halb sieben, als ein Diener die alte Dame zum Essen holen sollte.«
»Und nachdem Mr. Raymond Boynton mit ihr gesprochen hatte, kam bis halb sieben niemand in ihre Nähe?«, erkundigte sich Poirot.
»Angeblich nicht.«
»Aber es könnte jemand zu ihr gegangen sein?«, hakte Poirot nach.
»Das glaube ich kaum. Ab kurz vor sechs waren ständig Diener im Camp unterwegs, und die Gäste gingen zwischen den Zelten hin und her. Wir haben keinen gefunden, der jemand zu ihr gehen sah.«
»Dann war Raymond Boynton definitiv der Letzte, der seine Mutter lebend sah?«, fragte Poirot.
Dr. Gerard und Colonel Carbury wechselten einen raschen Blick. Colonel Carbury trommelte mit den Fingern auf den Tisch.
»Genau da fängt die Sache an, kompliziert zu werden«, sagte er. »Fahren Sie fort, Gerard. Sie waren schließlich vor Ort.«
»Wie ich bereits erwähnte, sah Sarah King, als sie Mrs. Boynton untersuchte, keine Veranlassung, die exakte Todeszeit festzustellen. Sie sagte lediglich, Mrs. Boynton sei >schon einige Zeit< tot gewesen, aber als ich am Tag darauf aus persönlichen Gründen versuchte, alles etwas genauer einzugrenzen und zufällig erwähnte, dass Mrs. Boynton kurz vor sechs zuletzt lebend gesehen worden sei, und zwar von ihrem Sohn Raymond, sagte Miss King zu meiner großen Überraschung schlankweg, dass das ausgeschlossen sei — dass Mrs. Boynton zu der Zeit bereits tot gewesen sein müsse.«
Poirot zog die Augenbrauen hoch. »Eigenartig. Höchst eigenartig. Und was hat Monsieur Raymond Boynton dazu zu sagen?«
Colonel Carbury antwortete prompt. »Er schwört, dass seine Mutter da noch am Leben war. Er ging zu ihr und sagte: >Ich bin wieder da. Hattest du einen angenehmen Nachmittag?<, oder etwas in der Art. Er sagt, sie habe nur gemurmelt: >Ja, durchaus<, woraufhin er in sein Zelt ging.«
Poirot runzelte verwirrt die Stirn.
»Sonderbar«, sagte er. »Höchst sonderbar. Sagen Sie, wurde es zu der Zeit bereits dunkel?«
»Die Sonne ging gerade unter.«
»Sonderbar«, sagte Poirot noch einmal. »Und Sie, Dr. Gerard, wann sahen Sie die Tote?«
»Erst am nächsten Morgen. Um neun, um genau zu sein.«
»Und wann, schätzen Sie, war der Tod eingetreten?«
Der Franzose zuckte mit den Schultern. »So lange danach lässt sich das kaum mit Bestimmtheit sagen. Man muss immer einen Spielraum von mehreren Stunden einkalkulieren. Wenn ich unter Eid aussagen müsste, könnte ich nur sagen, dass sie mit Sicherheit seit zwölf Stunden tot war, aber nicht länger als achtzehn. Sie sehen, das hilft uns nicht weiter.«
»Fahren Sie fort, Gerard«, sagte Colonel Carbury. »Erzählen Sie ihm den Rest der Geschichte.«
»Als ich morgens aufstand«, sagte Dr. Gerard, »war meine Spritze wieder da. Sie lag hinter einigen Fläschchen auf meinem T oilettentisch.«
Er beugte sich vor.
»Sie werden vielleicht sagen, dass ich sie am Vortag schlicht übersehen hatte. Mir war furchtbar elend, ich hatte Fieber und Schüttelfrost, und wie oft sucht man etwas, das die ganze Zeit da ist, und findet es trotzdem nicht! Ich kann nur sagen, dass ich absolut sicher bin, dass die Spritze am Tag davor nicht da war.«
»Aber das ist noch nicht alles«, sagte Carbury.
»Nein. Ich sollte noch zwei weitere Dinge erwähnen, die wichtig sein könnten. Am Handgelenk der Toten befand sich ein kleiner Einstich — wie von einer subkutan verabreichten Injektion. Die Tochter behauptet allerdings, dass er von einem gewöhnlichen Nadelstich stammt — «
Poirot machte eine Bewegung. »Welche Tochter?«
»Carol Boynton.«
»Ah. Bitte fahren Sie fort.«
»Und ein letzter Punkt. Als ich zufällig in meine Reiseapotheke sah, bemerkte ich, dass mein Vorrat an Digitoxin stark abgenommen hatte.«
»Digitoxin«, sagte Poirot, »ist ein giftiges Herzmittel, nicht wahr?«
»Ja. Es wird aus Digitalis purpurea gewonnen, dem gewöhnlichen Roten Fingerhut. Er besitzt vier aktive Grundbestandteile: Digitalin, Digitonin, Digitalein und Digitoxin. Von diesen gilt Digitoxin als giftigster Wirkstoff der Digitalis-Blätter. Versuche haben gezeigt, dass es sechs- bis zehnmal stärker ist als Digitalin oder Digitalein. In Frankreich ist es zugelassen — aber es steht nicht in der offiziellen englischen Arzneimittelliste.«