»Und was bewirkt eine hohe Dosis Digitoxin?«
Dr. Gerard sagte sehr ernst: »Eine hohe Dosis Digitoxin, die durch intravenöse Injektion direkt in den Blutkreislauf gelangt, führt zum sofortigen Tod durch Herzlähmung. Man schätzt, dass vier Milligramm für einen erwachsenen Mann tödlich sind.«
»Und Mrs. Boynton war bereits herzkrank?«
»Ja. Genau gesagt nahm sie sogar ein Medikament, das Digitalin enthält.«
»Das«, erklärte Poirot, »ist wirklich sehr interessant.«
»Wollen Sie damit sagen«, fragte Colonel Carbury, »dass ihr Tod auf eine Überdosis ihrer eigenen Medizin zurückzuführen sein könnte?«
»Ja — das wäre möglich. Aber ich dachte dabei noch an etwas anderes.«
»In gewissem Sinn«, sagte Dr. Gerard, »könnte man Digitalin als ein kumulativ wirkendes Arzneimittel bezeichnen. Und was den Obduktionsbefund betrifft, so können die Wirkstoffe von Digitalis töten, ohne Spuren zu hinterlassen.«
Poirot nickte langsam zum Zeichen, dass er verstanden hatte.
»Ja, das ist raffiniert — sehr raffiniert. Es ist also praktisch unmöglich, es vor Gericht nachzuweisen. Nun, meine Herren, eines kann ich Ihnen versichern: Falls es sich hier um Mord handelt, dann um einen ganz raffinierten! Die Spritze wird zurückgelegt, das Gift, das benutzt wird, ist ein Gift, das das Opfer schon des Längeren einnahm — genügend Möglichkeiten, dass ein Irrtum oder ein Unfall vorliegt. O ja, hier war ein kluger Kopf am Werk. Dahinter steckt Überlegung — Sorgfalt — Genialität.«
Er saß ein Weilchen schweigend da, dann hob er den Kopf. »Etwas ist mir allerdings ein Rätsel.«
»Und das wäre?«
»Der Diebstahl der Spritze.«
»Sie wurde entwendet«, sagte Dr. Gerard rasch.
»Entwendet — und zurückgebracht?«
»Ja.«
»Seltsam«, sagte Poirot. »Sehr seltsam. Alles andere passt vortrefflich zusammen.«
Colonel Carbury sah ihn neugierig an.
»Nun?«, sagte er dann. »Wie lautet Ihr fachmännisches Urteil? War es Mord — oder war es kein Mord?«
Poirot hielt abwehrend die Hand hoch.
»Geduld. So weit sind wir noch nicht. Man muss noch weitere Indizien in Erwägung ziehen.«
»Was denn für Indizien? Sie kennen doch schon alle.«
»Ah, aber hier handelt es sich um ein Indiz, das ich, Hercule Poirot, beisteuere.«
Er nickte nachdrücklich und lächelte ein wenig über die erstaunten Gesichter der beiden anderen.
»Ja, es ist kurios, das. Dass ich, dem Sie die Geschichte erzählen, meinerseits in der Lage bin, ein Indiz zu liefern, von dem Sie nichts wissen. Es war so. Im Hotel Solomon gehe ich eines Abends zum Fenster, um mich zu vergewissern, dass es geschlossen ist — «
»Geschlossen — oder offen?«, fragte Carbury.
»Geschlossen«, sagte Poirot bestimmt. »Es war offen, also gehe ich natürlich, es zu schließen. Aber bevor ich das mache, als meine Hand schon auf dem Griff liegt, höre ich eine Stimme — eine angenehme Stimme, leise und deutlich, die vor Erregung ein wenig zittert. Ich sage zu mir, das ist eine Stimme, die ich wieder erkennen werde. Und was sagt sie, diese Stimme? Sie sagt die Worte: >Du siehst doch ein, dass sie muss?<«
»Naturellement«, fuhr er fort, »denke ich in diesem Moment nicht, dass die Worte sich auf einen Mord aus Fleisch und Blut beziehen. Ich halte sie für die Worte eines Schriftstellers oder vielleicht eines Bühnenautors. Aber jetzt — bin ich mir nicht mehr so sicher. Das heißt, ich bin sicher, dass es sich anders verhielt.«
Wieder hielt er kurz inne, bevor er weitersprach: »Messieurs, so viel kann ich Ihnen nach bestem Wissen und Gewissen sagen: Diese Worte wurden gesprochen von einem jungen Mann, den ich später in der Hotelhalle sah und der, wie man mir auf meine Nachfrage mitteilte, ein junger Mann namens Raymond Boynton war.«
Drittes Kapitel
»Raymond Boynton sagte das?«, rief der Franzose verblüfft aus.
»Halten Sie das für unwahrscheinlich — psychologisch gesehen?«, erkundigte sich Poirot ruhig.
Gerard schüttelte den Kopf. »Nein, das würde ich nicht behaupten. Ich bin nur überrascht. Ich will damit sagen, dass ich überrascht bin, weil Raymond Boynton sich geradezu als Verdächtiger anbot.«
Colonel Carbury seufzte. Der Seufzer schien zu besagen, man möge ihn mit diesem Psychokram verschonen.
»Fragt sich nur«, knurrte er, »wie es jetzt weitergehen soll.«
Gerard zuckte mit den Schultern. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie unternehmen können«, bekannte er. »Die vorhandenen Indizien sind ohne Beweiskraft. Selbst wenn Sie überzeugt sind, dass es Mord war, wird es schwierig sein, ihn nachzuweisen. «
»Ich verstehe«, sagte Colonel Carbury. »Wir haben zwar den Verdacht, dass es Mord war, aber wir lehnen uns gemütlich zurück und drehen Däumchen! Das geht mir gegen den Strich!« Wie zur Erklärung fügte er den merkwürdigen Satz hinzu, den er schon einmal gesagt hatte: »Ich bin nun mal ein ordentlicher Mensch.«
»Ich weiß. Ich weiß.« Poirot nickte mitfühlend. »Sie möchten sich Klarheit verschaffen. Sie möchten definitiv und ganz genau wissen, was geschehen ist und wie es geschah. Und Sie, Dr. Gerard? Sie haben gesagt, dass man nichts unternehmen kann — dass das vorliegende Material keine Beweiskraft hat? Das trifft vermutlich zu. Aber sind Sie damit zufrieden, die Sache auf sich beruhen zu lassen?«
»Sie war ein übles Subjekt«, sagte Gerard bedächtig. »Außerdem wäre sie vermutlich bald gestorben — in einer Woche, einem Monat, einem Jahr.«
»Sie sind also zufrieden?«, hakte Poirot nach.
»Es besteht nicht der geringste Zweifel«, fuhr Gerard fort, »dass ihr Tod — wie soll ich mich ausdrücken — ein Segen für die Allgemeinheit ist. Er hat ihren Familienangehörigen die Freiheit geschenkt. Sie haben jetzt die Möglichkeit, sich zu entfalten — sie besitzen alle, wie ich meine, einen guten Charakter und Verstand. Sie werden — endlich — nützliche Mitglieder der Gesellschaft sein! Wie ich es sehe, hat der Tod von Mrs. Boynton nur Positives zur Folge.«
Poirot fragte zum dritten Maclass="underline" »Sie sind also zufrieden?«
»Nein.« Gerard schlug plötzlich mit der Faust auf den Tisch. »Ich bin nicht >zufrieden<, wie Sie sich auszudrücken belieben! Es liegt in meiner Natur, Leben zu erhalten — nicht den Tod zu beschleunigen! Auch wenn mir mein Verstand noch so oft sagt, dass der Tod dieser Frau eine gute Sache war, lehnt sich unbewusst alles in mir dagegen auf! Es ist nicht recht, Gentlemen, dass ein Mensch stirbt, bevor seine Zeit gekommen ist.«
Poirot lächelte und lehnte sich zurück, zufrieden mit der Antwort, die er auf sein hartnäckiges Nachfragen erhalten hatte.
Colonel Carbury stellte nüchtern fest: »Der Mann hat was gegen Mord! Mit Recht! Geht mir genauso.«
Er stand auf und schenkte sich einen großen Whisky Soda ein. Die Gläser seiner Gäste waren noch voll.
»Und jetzt«, sagte er, wieder zum Thema kommend, »wollen wir mal Nägel mit Köpfen machen. Was können wir in dieser Sache unternehmen? Dass sie uns nicht gefällt, steht fest! Aber wir werden uns vielleicht wohl oder übel damit abfinden müssen. Es hat keinen Zweck, einen Riesenwirbel zu veranstalten, wenn wir keine hieb- und stichfesten Beweise auf den Tisch legen können.«