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Gerard beugte sich vor. »Was meinen Sie, Monsieur Poirot? Sie sind schließlich der Experte.«

Poirot ließ sich mit der Antwort Zeit. Pedantisch rückte er den einen oder anderen Aschenbecher zurecht und schob die benutzten Streichhölzer zu einem Häufchen zusammen. Dann sagte er: »Sie möchten natürlich gerne wissen, Colonel Carbury, wer Mrs. Boynton getötet hat, nicht wahr? Das heißt, falls sie getötet wurde und nicht eines natürlichen Todes starb. Exakt wie und wann sie getötet wurde — also die ganze Wahrheit?«

»Richtig. Genau das.« Carburys Ton war ruhig und sachlich.

Hercule Poirot sagte langsam: »Ich wüsste nicht, was Sie daran hindern sollte!«

Dr. Gerard blickte ungläubig drein. Colonel Carbury sah Poirot interessiert an.

»Ach was!«, sagte er. »Tatsächlich? Ist ja hochinteressant. Und wie wollen Sie das anstellen?«

»Durch methodische Auswertung der Indizien, durch exakte Schlussfolgerungen.«

»Meinen Segen haben Sie«, sagte Colonel Carbury.

»Und mittels sorgfältiger Prüfung der psychologischen Aspekte.«

»Dr. Gerard wird sich freuen, das zu hören«, sagte Carbury. »Und Sie glauben, wenn Sie die Indizien geprüft und Ihre Schlüsse gezogen haben und nebenher ein bisschen Psychologie angewandt haben, dass Sie dann — Simsalabim! — das Kaninchen aus dem Zylinder zaubern können?«

»Ich wäre höchst überrascht, wenn mir selbiges nicht gelänge«, sagte Poirot ruhig.

Colonel Carbury starrte ihn über das Whiskyglas hinweg an. Einen Moment lang waren seine ausdruckslosen Augen ganz und gar nicht ausdruckslos, sondern abschätzend und taxierend.

Er stellte sein Glas ab und brummte: »Was meinen Sie dazu, Dr. Gerard?«

»Ich muss gestehen, dass ich skeptisch bin, was den Erfolg betrifft. Obwohl ich natürlich weiß, dass Monsieur Poirot große geistige Fähigkeiten besitzt.«

»Ja, ich bin eine Naturbegabung«, sagte der kleine Mann. Er lächelte bescheiden.

Colonel Carbury wandte das Gesicht ab und hüstelte.

Poirot sagte: »Als Erstes müssen wir klären, ob dies ein von mehreren Personen gemeinsam begangener Mord ist, also ob er von der Familie Boynton als Ganzes geplant und ausgeführt wurde — oder ob es sich um die Tat eines einzelnen Familienmitglieds handelt. Im zweiten Fall ist zu klären, wer von ihnen am ehesten als Täter in Frage kommt.«

Dr. Gerard sagte: »Da wäre Ihre eigene Aussage. Man müsste wohl als Erstes Raymond Boynton in Betracht ziehen.«

»Ich stimme Ihnen zu«, sagte Poirot. »Die Bemerkung, die ich zufällig hörte, und die Diskrepanz zwischen seiner Aussage und dem, was die junge Ärztin sagt, machen ihn eindeutig zum Hauptverdächtigen. «

»Er war der Letzte«, fuhr er fort, »der Mrs. Boynton lebend sah. Das behauptet er jedenfalls. Sarah King widerspricht ihm in diesem Punkt. Sagen Sie, Dr. Gerard, gibt es — äh — Sie wissen, was ich meine — eine, sagen wir, gewisse tendresse zwischen den beiden?«

Der Franzose nickte. »Ganz zweifellos.«

»Aha! Ist diese junge Dame brünett, trägt das Haar aus der Stirn nach hinten gekämmt — so — und hat sie große braune Augen und ein entschiedenes Auftreten?«

Dr. Gerard schien überrascht zu sein, »ja, das beschreibt sie sehr gut.«

»Ich glaube, ich habe sie schon gesehen — im Hotel Solomon. Sie sprach mit diesem Raymond Boynton, und danach blieb er wie in Trance, versperrte den Ausgang aus dem Fahrstuhl. Dreimal musste ich sagen >Pardon!<, bevor er mich hörte und aus dem Weg ging.«

Er hing eine Weile seinen Gedanken nach und sagte dann: »Wir werden Miss Sarah Kings medizinischen Befund für den Anfang also mit gewissen Vorbehalten zur Kenntnis nehmen. Sie ist befangen.« Er schwieg und fuhr dann fort: »Sagen Sie, Dr. Gerard, glauben Sie, dass Raymond Boynton von der Veranlagung her fähig ist, ohne weiteres einen Mord zu begehen?«

Gerard antwortete langsam: »Sie meinen, einen vorsätzlichen, geplanten Mord? Ja, das halte ich für möglich — aber nur in einem Zustand größter emotionaler Anspannung. «

»Und war dies der Fall?«

»Unbedingt. Diese Reise ins Ausland steigerte zweifellos die nervliche und psychische Anspannung, unter der alle standen. Der Gegensatz zwischen ihrem eigenen Leben und dem anderer Menschen wurde ihnen bewusster. Und bei Raymond Boynton.«

»Ja?«

»Bei ihm wurde die Sache noch dadurch kompliziert, dass er sich stark zu Sarah King hingezogen fühlte.«

»Und das hätte ihm ein weiteres Motiv gegeben? Und einen zusätzlichen Antrieb?«

»So ist es.«

Colonel Carbury hüstelte. »Wenn ich mal unterbrechen darf. Dieser Satz, den Sie da gehört haben — du siehst doch ein, dass sie sterben muss? —, der muss doch an irgendwen gerichtet gewesen sein.«

»Ein wichtiger Punkt«, sagte Poirot. »Er war mir keineswegs entgangen. Alors, mit wem sprach Raymond Boynton? Zweifellos mit einem Mitglied seiner Familie. Aber mit welchem? Können Sie uns etwas über die psychische Verfassung der anderen Familienmitglieder sagen, Dr. Gerard?«

Gerard antwortete unverzüglich: »Carol Boynton war in einem ganz ähnlichen Zustand wie Raymond, würde ich sagen — in einem Zustand der Auflehnung, verbunden    mit einer hochgradigen nervösen Erregung, aber in ihrem Fall ohne die zusätzliche Belastung durch eine sexuelle Komponente. Lennox Boynton hatte das Stadium der Auflehnung bereits hinter sich. Er war in Apathie versunken. Ich glaube, es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Seine Reaktion auf seine Umwelt bestand darin, sich mehr und mehr in sich selbst zurückzuziehen. Er ist extrem introvertiert.«

»Und seine Frau?«

»Seine Frau war zwar müde geworden und unglücklich, ließ aber keine Anzeichen einer psychischen Störung erkennen. Ich glaube, sie stand kurz vor einer Entscheidung. «

»Was für einer Entscheidung?«

»Ob sie ihren Mann verlassen sollte oder nicht.«

Er berichtete von seinem Gespräch mit Jefferson Cope. Poirot nickte verständnisvoll.

»Was ist mit dem jüngeren Mädchen — Ginevra, wenn ich mich nicht irre?«

Das Gesicht des Franzosen wurde ernst. Er sagte: »Meiner Meinung nach ist sie psychisch in einem äußerst gefährlichen Zustand. Sie zeigt bereits die ersten Anzeichen von Schizophrenie. Da sie die in ihrem Leben herrschende Unterdrückung nicht ertragen kann, flüchtet sie sich in eine Traumwelt. Sie leidet an Verfolgungswahn im fortgeschrittenen Stadium — das heißt, sie behauptet, königlichen Geblüts zu sein, in Gefahr zu schweben, von Feinden umringt zu sein und so weiter — das Übliche!«

»Und das ist — gefährlich?«

»Sehr gefährlich sogar. Es ist häufig der Beginn eines zwanghaften Tötungsdrangs. Der Kranke tötet nicht aus Mordgier, sondern aus Notwehr. Er tötet, um nicht selbst getötet zu werden. Aus der Sicht des Patienten ist das absolut rational.«

»Sie glauben also, Ginevra Boynton könnte ihre Mutter getötet haben?«

»Ja. Aber ich bezweifle, dass sie über das Wissen oder die Zielstrebigkeit verfügt, einen Mord in der Form auszuführen, wie er hier begangen wurde. Die Vorgehensweise dieser Art manisch-depressiver Patienten ist im Allgemeinen sehr direkt und durchschaubar. Und ich bin mir fast sicher, dass Ginevra Boynton eine spektakulärere Methode gewählt hätte.«