»Aber man muss sie als Täter in Betracht ziehen?«, hakte Poirot nach.
»Ja«, räumte Gerard ein.
»Und danach — nachdem die Tat begangen war? Glauben Sie, dass die ganze Familie weiß, wer sie begangen hat?«
»Sie wissen es!«, sagte Colonel Carbury unvermittelt. »Wenn mir jemals ein Grüppchen untergekommen ist, das etwas zu verbergen hatte — dann diese Familie! Die machen uns doch alle was vor!«
»Wir werden sie dazu bringen, uns zu sagen, was dahinter steckt«, erwiderte Poirot.
»Daumenschrauben?«, meinte Colonel Carbury.
»Nein.« Poirot schüttelte den Kopf. »Nur eine ganz normale Unterhaltung. Im Großen und Ganzen erzählen einem die Leute nämlich die Wahrheit. Weil es das Einfachste ist! Weil es weniger anstrengend für die Phantasie ist! Man kann einmal zu einer Lüge greifen, zweimal oder dreimal, sogar viermal — aber man kann nicht immer lügen. Und darum kommt die Wahrheit stets ans Licht.«
»Da ist was dran«, räumte Carbury ein.
Dann sagte er geradeheraus: »Sie werden also mit ihnen reden, wie Sie sagen. Heißt das, dass Sie die Sache übernehmen? «
Poirot deutete eine Verbeugung an. Dann sagte er: »Lassen Sie uns etwas klarstellen. Sie wollen die Wahrheit wissen, und ich verpflichte mich, sie Ihnen zu liefern. Aber vergessen Sie eines nicht: Selbst wenn wir die Wahrheit herausgefunden haben, wird es vielleicht keine Beweise geben. Das heißt, keine Beweise, die vor Gericht Bestand hätten. Sie verstehen, was ich meine?«
»Vollkommen«, sagte Carbury. »Sie sorgen dafür, dass ich erfahre, was wirklich passiert ist, und dann liegt es bei mir zu entscheiden, ob ein Verfahren eingeleitet wird oder nicht — unter Berücksichtigung der internationalen Aspekte. Auf jeden Fall wird die Sache aufgeklärt. Keine Unklarheiten. Kann Unklarheiten nicht ausstehen.«
Poirot lächelte.
»Und noch etwas«, sagte Carbury. »Ich kann Ihnen nicht viel Zeit geben. Kann die Leute ja nicht ewig hier behalten.«
Poirot sagte ruhig: »Sie können sie vierundzwanzig Stunden festhalten. Morgen Abend werden Sie die Wahrheit wissen.«
Colonel Carbury sah ihn scharf an. »Ganz schön selbstsicher, wie?«
»Ich kenne meine Fähigkeiten«, murmelte Poirot.
Colonel Carbury, von dieser zutiefst unenglischen Äußerung peinlich berührt, wandte den Blick ab und zupfte an seinem struppigen Schnurrbart herum.
»Tja«, brummte er, »es liegt an Ihnen.«
»Wenn Sie das schaffen, mein Freund«, sagte Dr. Gerard, »dann sind Sie in der Tat ein Genie!«
Viertes Kapitel
Sarah King musterte Hercule Poirot lange und eingehend. Sie besah sich den eiförmigen Kopf, den mächtigen Schnurrbart, die stutzerhafte Kleidung und das verdächtig tiefe Schwarz der Haare. Ein zweifelnder Ausdruck schlich sich in ihre Augen.
»Nun, Mademoiselle, sind Sie zufrieden?«
Sarah errötete, als sie Poirots amüsiertem ironischen Blick begegnete.
»Verzeihen Sie«, sagte sie verlegen.
»Du tout! Um ein Wort zu benutzen, das ich erst kürzlich gelernt habe: Sie haben mich beaugapfelt, habe ich Recht?«
Sarah lächelte schwach. »Nun, Sie können das Gleiche gern auch bei mir machen«, sagte sie.
»Aber gewiss. Ich habe es nicht versäumt, dies bereits zu tun.«
Sie sah ihn scharf an. Der Ton, in dem er das sagte, irritierte sie. Doch Poirot zwirbelte nur selbstgefällig seinen Schnurrbart, und Sarah dachte (schon zum zweiten Mal): Der Mann ist ein Schaumschläger!
Nachdem ihre Selbstsicherheit wiederhergestellt war, setzte sie sich etwas aufrechter hin und sagte leicht fragend: »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, wozu diese Unterredung dienen soll.«
»Der gute Dr. Gerard hat es Ihnen nicht erklärt?«
Sarah runzelte die Stirn. »Ich begreife Dr. Gerard nicht. Er scheint zu glauben, dass — «
»Etwas ist faul im Staate Dänemark«, zitierte Poirot. »Sie sehen, ich kenne Ihren Shakespeare.«
Sarah tat Shakespeare mit einer Handbewegung ab.
»Wozu soll der ganze Wirbel eigentlich gut sein?«, wollte sie wissen.
»»Eh bien, man will dieser Sache doch auf den Grund gehen, habe ich Recht?«
»Sprechen Sie von Mrs. Boyntons Tod?«
»Ja.«
»Ist das nicht ein bisschen viel Tamtam um gar nichts? Gewiss, Sie sind Fachmann auf diesem Gebiet, Monsieur Poirot. Da ist es ganz normal, dass Sie — «
»Dass ich ein Verbrechen wittere, wann immer ich einen Vorwand dafür finden kann?«
»Nun ja — so ähnlich.«
»Sie selbst hegen keine Zweifel, was Mrs. Boyntons Tod betrifft?«
Sarah zuckte mit den Schultern.
»Monsieur Poirot, wenn Sie in Petra gewesen wären, dann wüssten Sie, dass die Reise dorthin eine ziemliche Strapaze gewesen sein muss für eine alte Frau, deren Herz nicht das beste war.«
»Für Sie scheint der Fall also absolut klar zu sein?«
»Aber ja! Ich begreife nicht, was Dr. Gerard eigentlich bezweckt. Er war ja nicht einmal dabei. Er lag mit Fieber im Bett. Selbstverständlich würde ich mich jederzeit seiner größeren medizinischen Erfahrung beugen — aber in diesem Fall hat er doch überhaupt nichts in der Hand. Man kann ja in Jerusalem eine Obduktion durchführen lassen, falls man mit meinem Befund nicht zufrieden ist.«
Poirot schwieg einen Moment und sagte dann: »Es gibt einen Tatbestand, den Sie noch nicht kennen. Dr. Gerard hat ihn Ihnen gegenüber nicht erwähnt.«
»Und der wäre?«, wollte Sarah wissen.
»In Dr. Gerards Reiseapotheke fehlt ein gewisses Medikament — Digitoxin.«
»Oh!« Sarah erfasste sofort, was dieser neue Aspekt bedeutete. Nicht minder schnell stürzte sie sich auf den einzigen schwachen Punkt.
»Ist Dr. Gerard da absolut sicher?«
Poirot zuckte mit den Schultern. »Ein Arzt ist, wie Sie wissen werden, Mademoiselle, im Allgemeinen sehr vorsichtig mit seinen Aussagen.«
»Ja, natürlich. Das versteht sich von selbst. Aber Dr. Gerard hatte zu der Zeit einen Malariaanfall.«
»Das ist natürlich richtig.«
»Hat er eine Ahnung, wann das Medikament entwendet worden sein könnte?«
»Er hatte Veranlassung, am Abend seiner Ankunft in Petra in seine Reiseapotheke zu sehen. Er brauchte Phenacetin — weil er starke Kopfschmerzen hatte. Er ist sich fast sicher, dass noch alle Medikamente vorhanden waren, als er das Phenacetin am nächsten Morgen wieder in die Tasche legte und diese zumachte.«
»Fast sicher«, sagte Sarah.
Poirot zuckte mit den Schultern. »Ja, es besteht ein gewisser Zweifel! Der Zweifel, den jeder Mensch, der ehrlich ist, haben würde.«
Sarah nickte. »Ich weiß, was Sie meinen. Man wird immer misstrauisch, wenn sich jemand einer Sache allzu sicher ist. Trotzdem, Monsieur Poirot, es ist kein eindeutiger Beweis. Ich habe das Gefühl, dass.« Sie brach ab. Poirot sprach den Satz für sie zu Ende.
»Sie haben das Gefühl, dass Ermittlungen meinerseits unklug wären.«
Sarah sah ihm fest in die Augen. »Offen gesagt, ja. Sind Sie ganz sicher, Monsieur Poirot, dass es sich hier nicht lediglich um ein Vergnügen zu Lasten anderer handelt?«
Poirot lächelte. »Dass das Privatleben einer Familie gestört und behelligt wird, nur damit Hercule Poirot zu seiner Zerstreuung ein wenig Detektiv spielen kann?«
»Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten — aber ist dieser Gedanke denn so abwegig?«
»Sie stehen also auf der Seite der Familie Boynton, Mademoiselle?«