»Nun«, sagte Sarah, »ich bin noch jung und habe nicht viel Erfahrung mit Leichen, aber ich weiß genug, um mir in einem Punkt ganz sicher zu sein. Mrs. Boynton war schon mindestens eine Stunde tot, als ich ihre Leiche untersuchte!«
»Das«, sagte Hercule Poirot, »ist Ihre Version, und Sie werden sich nicht davon abbringen lassen! Würden Sie mir dann erklären, warum Mr. Boynton aussagen sollte, dass seine Mutter noch lebte, wenn sie in Wahrheit bereits tot war?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Sarah. »Wahrscheinlich deshalb, weil die ganze Familie kein besonders gutes Zeitgefühl hat. Sie sind ja alle ziemlich fahrig.«
»Wie oft, Mademoiselle, hatten Sie Gelegenheit, mit ihnen zu sprechen?«
Sarah runzelte die Stirn und dachte einen Moment nach.
»Das kann ich Ihnen genau sagen«, erklärte sie. »Auf der Bahnfahrt nach Jerusalem unterhielt ich mich im Gang des Schlafwagens mit Raymond Boynton. Mit Carol Boynton habe ich zweimal gesprochen — einmal vor der Omar-Moschee und einmal spät nachts in meinem Hotelzimmer. Einen Tag später hatte ich vormittags ein Gespräch mit Mrs. Lennox Boynton. Das ist alles — bis zum Nachmittag des Tages, an dem Mrs. Boynton starb, als wir alle gemeinsam einen Spaziergang machten.«
»Sie haben nie mit Mrs. Boynton selbst gesprochen?«
Sarah wurde vor Verlegenheit rot.
»Doch. An dem Tag, als sie Jerusalem verließ, wechselte ich einige Worte mit ihr.« Sie hielt inne und stieß dann hervor: »Ehrlich gesagt, habe ich mich komplett zum Narren gemacht.«
»Ach ja?«
Poirots Ton ließ Sarah keine andere Wahl, als steif und widerwillig den Inhalt des Gesprächs zu wiederholen.
Poirot schien Genaueres wissen zu wollen und nahm sie ins Kreuzverhör.
»Die Mentalität von Mrs. Boynton — sie ist sehr wichtig in diesem Fall«, sagte er. »Und Sie sind eine Außenstehende, eine unvoreingenommene Beobachterin. Ihr Eindruck von ihr ist daher sehr wichtig.«
Sarah gab keine Antwort. Sie fühlte sich jedes Mal peinlich berührt, wenn sie an die Szene denken musste.
»Ich danke Ihnen, Mademoiselle«, sagte Poirot. »Ich werde jetzt mit den anderen Zeugen sprechen.«
Sarah stand auf. »Verzeihen Sie, Monsieur Poirot, aber wenn ich einen Vorschlag machen dürfte —?«
»Nur zu! Nur zu!«
»Warum warten Sie damit nicht, bis die Obduktion stattgefunden hat und Sie genau wissen, ob Ihr Verdacht gerechtfertigt ist oder nicht? Mir kommt das Ganze so vor, als würde man das Pferd am Schwanz aufzäumen.«
Poirot machte eine bombastische Handbewegung. »Das ist eben die Methode von Hercule Poirot«, verkündete er.
Sarah presste die Lippen zusammen und verließ das Zimmer.
Fünftes Kapitel
Lady Westholme betrat das Zimmer mit der Bestimmtheit eines Ozeandampfers, der in den Hafen einläuft.
Miss Amabel Pierce, ein undefinierbareres Wasserfahrzeug, folgte in ihrem Kielwasser und ließ sich auf einem bescheideneren Stuhl etwas hinter ihr nieder.
»Selbstverständlich, Monsieur Poirot«, dröhnte Lady Westholme, »wird es mir ein Vergnügen sein, Sie mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln zu unterstützen. Ich habe stets die Meinung vertreten, dass in Angelegenheiten dieser Art jedermann aufgerufen ist, seinen staatsbürgerlichen Pflichten nachzukommen und — «
Nachdem Lady Westholmes staatsbürgerliche Pflichten mehrere Minuten die Szene beherrscht hatten, gelang es Poirot mit List und Tücke, seine erste Frage zu stellen.
»Meine Erinnerung an den fraglichen Nachmittag ist lückenlos«, erwiderte Lady Westholme. »Miss Pierce und ich werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Sie zu unterstützen.«
»O ja!«, seufzte Miss Pierce geradezu verzückt. »Wirklich zu tragisch, nicht wahr? Tot — einfach so — von jetzt auf nachher!«
»Wenn Sie mir bitte exakt schildern würden, was an dem bewussten Nachmittag geschah?«
»Selbstverständlich«, sagte Lady Westholme. »Nachdem wir zu Mittag gegessen hatten, beschloss ich, eine kurze Siesta zu halten. Der Ausflug am Vormittag war doch etwas anstrengend gewesen. Nicht, dass ich richtig müde gewesen wäre — das bin ich so gut wie nie. Im Grunde weiß ich gar nicht, was Müdigkeit ist. Wie oft muss man bei öffentlichen Anlässen, egal wie man sich eigentlich fühlt, seine — «
Wieder gelang es Poirot, eine Bemerkung einzuwerfen.
»Wie gesagt, ich war für eine Siesta. Miss Pierce stimmte mir zu.«
»O ja!«, seufzte Miss Pierce. »Ich war nämlich schrecklich müde nach diesem Vormittag. Der Aufstieg war ja so gefährlich — sehr interessant zwar, aber sehr strapaziös. Ich habe nun einmal leider keine so kräftige Konstitution wie Lady Westholme.«
»Müdigkeit«, sagte Lady Westholme, »kann man ebenso überwinden wie alles andere auch. Ich habe es mir zum Prinzip gemacht, meinen körperlichen Bedürfnissen niemals nachzugeben.«
»Nach dem Mittagessen«, sagte Poirot, »begaben Sie, meine Damen, sich also in Ihre Zelte?«
»Ja.«
»Und Mrs. Boynton saß zu diesem Zeitpunkt vor ihrer Höhle?«
»Ihre Schwiegertochter machte es ihr dort bequem, bevor sie selbst wegging.«
»Sie konnten sie beide sehen?«
»O ja!«, sagte Miss Pierce. »Sie war genau gegenüber, wissen Sie — nur ein bisschen weiter weg und ein wenig höher natürlich.«
Lady Westholme sah sich zu näheren Erläuterungen veranlasst: »Die Höhlen gingen auf einen Felsvorsprung. Unterhalb des Felsvorsprungs standen einige Zelte. Dann kam ein kleines Wadi, und auf der anderen Seite des Wadis befanden sich das Gemeinschaftszelt und weitere Zelte. Miss Pierce und ich hatten die Zelte neben dem Gemeinschaftszelt. Ihres stand auf der rechten Seite des Gemeinschaftszeltes und meines auf der linken. Unsere Zelteingänge lagen in Richtung des Felsvorsprungs, der aber natürlich ein Stück entfernt war.«
»Knapp zweihundert Meter, wie man mir sagte.«
»Schon möglich.«
»Ich habe hier einen Lageplan«, sagte Poirot, »der mit Hilfe des Dragomans Mahmoud angefertigt wurde.«
Lady Westholme bemerkte, dass der Plan in diesem Falle vermutlich hinten und vorne nicht stimmte!
»Der Mann nimmt es mit der Wahrheit nicht sehr genau. Ich habe seine Erklärungen anhand des Baedekers überprüft. In mehreren Fällen waren seine Informationen absolut irreführend.«
»Diesem Lageplan zufolge«, sagte Poirot, »wurde die Höhle neben Mrs. Boynton von ihrem Sohn Lennox und seiner Frau bewohnt. Raymond, Carol und Ginevra Boynton hatten Zelte direkt unterhalb, aber etwas weiter rechts — also fast genau gegenüber vom Gemeinschaftszelt. Rechts von Ginevra Boyntons Zelt war das Zelt von Dr. Gerard und neben diesem das von Miss King. Auf der anderen Seite des Wadis — zur Linken des Gemeinschaftszeltes — standen die Zelte von Ihnen und Mr. Cope. Miss Pierce wohnte, wie Sie sagten, rechts vom Gemeinschaftszelt. Ist das richtig?«
Lady Westholme gab widerwillig zu, dass es sich ihres Wissens so verhielt.
»Ich danke Ihnen. Das wäre also geklärt. Bitte fahren Sie fort, Lady Westholme.«
Lady Westholme bedachte ihn mit einem huldvollen Lächeln und kam der Aufforderung nach: »Gegen Viertel vor vier schlenderte ich zum Zelt von Miss Pierce, um nachzusehen, ob sie schon wach war und Lust zu einem kleinen Spaziergang hatte. Sie saß vor ihrem Zelt und las. Wir verabredeten, uns in einer halben Stunde zu treffen, wenn es nicht mehr so heiß war. Ich ging zurück in mein Zelt und las etwa fünfundzwanzig Minuten. Dann ging ich wieder zu Miss Pierce. Sie war bereit, und so brachen wir auf. Im Camp schien alles zu schlafen — es war kein Mensch unterwegs —, und als ich Mrs. Boynton allein dort oben sitzen sah, sagte ich zu Miss Pierce, dass wir sie fragen sollten, ob sie etwas benötigte, bevor wir gingen.«