»Ja, genau so war es. Sehr rücksichtsvoll von Ihnen, wie ich fand«, murmelte Miss Pierce.
»Ich hielt es nur für meine Pflicht«, sagte Lady Westholme mit grandioser Selbstzufriedenheit.
»Und dann so unhöflich zu reagieren!«, rief Miss Pierce aus.
Poirot sah die Damen fragend an.
»Unser Weg führte direkt unter dem Felsvorsprung entlang«, erläuterte Lady Westholme, »und so rief ich zu ihr hinauf, dass wir einen Spaziergang machen wollten und ob wir vorher etwas für sie tun könnten. Sie werden es nicht glauben, Monsieur Poirot, aber die einzige Antwort darauf war ein Grunzen! Ein Grunzen! Sie sah uns nur an, als ob wir — als ob wir der Abschaum der Menschheit wären!«
»Unerhört so etwas!«, sagte Miss Pierce mit rotem Gesicht.
»Ich muss gestehen«, sagte Lady Westholme, ihrerseits leicht errötend, »dass ich daraufhin eine etwas unchristliche Bemerkung machte.«
»Die durchaus angebracht war, wie ich finde«, sagte Miss Pierce. »Durchaus — unter diesen Umständen.«
»Und was war das für eine Bemerkung?«, fragte Poirot.
»Ich sagte zu Miss Pierce, dass Mrs. Boynton vielleicht trinkt! Ihr Benehmen war ja auch wirklich höchst sonderbar. Schon die ganze Zeit über. Ich hielt es für möglich, dass daran der Alkohol schuld war. Übermäßiger Alkoholgenuss ist ein Übel, das, wie ich sehr wohl weiß — «
Poirot verstand es, das Gespräch geschickt vom Thema Alkohol abzulenken.
»War ihr Benehmen an dem bewussten Tag besonders auffällig gewesen? Zum Beispiel beim Mittagessen?«
»N-nein«, sagte Lady Westholme zögernd. »Nein, ich würde sagen, dass ihr Benehmen da ziemlich normal war — für eine Amerikanerin ihres Schlages, meine ich«, fügte sie herablassend hinzu.
»Sie hat doch diesen Diener so beschimpft«, sagte Miss Pierce.
»Welchen?«
»Kurz bevor wir aufbrachen.«
»Ach ja, ich erinnere mich, sie schien tatsächlich sehr aufgebracht über ihn zu sein! Gewiss«, fuhr Lady Westholme fort, »Diener um sich zu haben, die kein Wort Englisch verstehen, ist höchst enervierend, aber ich sage immer, wenn man auf Reisen ist, muss man nun einmal Zugeständnisse machen.«
»Welcher Diener war das?«, fragte Poirot.
»Einer von den Beduinen, die im Camp beschäftigt sind. Er ging zu ihr hinauf — ich nehme an, dass er ihr etwas hatte holen sollen und vermutlich das Falsche brachte. Ich weiß natürlich nicht, um was es ging, aber auf jeden Fall war sie sehr wütend. Der arme Mann verzog sich, so schnell er nur konnte, und sie drohte ihm mit ihrem Stock und schimpfte hinter ihm her.«
»Mit welchen Worten?«
»Wir waren zu weit weg, um etwas zu verstehen. Ich selbst konnte jedenfalls nichts Genaues hören. Sie etwa, Miss Pierce?«
»Nein, ich auch nicht. Ich denke, sie hatte ihn beauftragt, etwas aus dem Zelt ihrer jüngsten Tochter zu holen — vielleicht war sie aber auch wütend auf ihn, weil er in das Zelt ihrer Tochter gegangen war. Genaueres kann ich leider nicht sagen.«
»Wie sah der Mann aus?«
Miss Pierce, an die die Frage gerichtet war, schüttelte hilflos den Kopf. »Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Er war zu weit weg. Für mich sehen diese Araber ohnehin alle gleich aus.«
»Er war größer als der Durchschnitt«, sagte Lady Westholme, »und trug die landesübliche Kopfbedeckung. Er hatte zerrissene und geflickte Breeches an — eine wahre Schande, kann ich nur sagen —, und seine Gamaschen waren sehr schlampig gewickelt. Ein höchst unordentlicher Aufzug! Diesen Leuten fehlt die Disziplin!«
»Würden Sie den Mann unter den Dienern des Camps wieder erkennen?«
»Das bezweifle ich. Sein Gesicht konnten wir ja nicht sehen, dafür war er zu weit weg. Und wie Miss Pierce bereits sagte, sehen diese Araber doch alle gleich aus.«
»Ich frage mich«, sagte Poirot nachdenklich, »was er getan hat, um Mrs. Boynton so wütend zu machen?«
»Manchmal stellen diese Burschen die Geduld auf eine harte Probe«, sagte Lady Westholme. »Einer von ihnen nahm meine Schuhe mit, obwohl ich ihm klipp und klar erklärt hatte — sogar mit Gebärden —, dass ich es vorziehe, meine Schuhe selbst zu putzen.«
»Dies trifft auch auf mich zu«, sagte Poirot, momentan von seiner Befragung abgelenkt. »Ich habe stets mein kleines Schuhputzetui bei mir. Und immer ein Staubtuch.«
»Genau wie ich.« Lady Westholme klang geradezu menschlich.
»Denn diese Araber entfernen nicht den Staub von persönlichen Gegenständen.«
»Nie! Was bedeutet, dass man alles drei-bis viermal am Tag selbst abstauben muß.«
»Aber es lohnt sich.«
»Ja, in der Tat. Ich kann Schmutz nicht ausstehen!« Lady Westholme sah richtiggehend kampfbereit aus.
Hitzig fügte sie hinzu: »Und diese Fliegen — in den Bazaren! Grässlich!«
»Gewiss, gewiss«, sagte Poirot mit leicht schuldbewusster Miene. »Nun, wir werden diesen Mann in Bälde fragen, was es war, das Mrs. Boynton aufbrachte. Würden Sie Ihren Bericht bitte fortsetzen?«
»Wir schlenderten langsam weiter«, sagte Lady Westholme. »Und dann begegneten wir Dr. Gerard. Er kam uns entgegengewankt und sah sehr schlecht aus. Ich wusste gleich, dass er Fieber hatte.«
»Er zitterte«, warf Miss Pierce ein. »Zitterte am ganzen Leib.«
»Ich sah sofort, dass er einen Malariaanfall hatte«, sagte Lady Westholme. »Ich bot an, mit ihm zurückzugehen und ihm Chinin zu bringen, aber er sagte, er habe selbst welches dabei.«
»Der arme Mann«, sagte Miss Pierce. »Es berührt einen immer ganz seltsam, wenn man sieht, dass ein Arzt krank ist. Das scheint einem doch irgendwie verkehrt zu sein.«
»Wir schlenderten weiter«, fuhr Lady Westholme fort. »Und dann setzten wir uns auf einen Felsblock.«
»Nun ja«, murmelte Miss Pierce, »man war ja noch müde — von der Anstrengung am Vormittag, dem Aufstieg — «
»Ich kenne keine Müdigkeit!«, sagte Lady Westholme mit Nachdruck. »Aber es bestand kein Grund, noch weiter zu gehen. Wir hatten dort nämlich einen sehr schönen Blick auf die umliegende Landschaft.«
»Waren Sie in Sichtweite des Camps?«
»Ja, wir hatten es direkt vor uns.«
»Richtig romantisch«, murmelte Miss Pierce. »Ein Zeltlager inmitten einer rosaroten Steinwüste.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf.
»Das Camp könnte wesentlich besser geführt sein«, sagte Lady Westholme. Ihre Pferdenüstern blähten sich. »Ich werde diesbezüglich ein ernstes Wörtchen mit der Firma Castle zu reden haben. Ich glaube nämlich nicht, dass das Trinkwasser sowohl abgekocht als auch gefiltert ist, wie sich das gehört. Und das werde ich den Leuten auch klarmachen.«
Poirot hüstelte und lenkte das Gespräch schleunigst vom Thema Trinkwasser ab.
»Sahen Sie auch andere Mitglieder der Gruppe?«, erkundigte er sich.
»Ja. Der ältere Mr. Boynton und seine Frau kamen auf dem Rückweg ins Camp an uns vorbei.«
» Gemeinsam? «
»Nein. Zuerst kam Mr. Boynton. Er sah aus, als hätte er einen kleinen Sonnenstich. Er ging nämlich so, als wäre ihm etwas schwindelig. «
»Ja, ja, der Nacken!«, sagte Miss Pierce. »Man muss immer auf den Nacken achten! Ich selbst binde mir stets ein schweres Seidentuch um.«
»Was tat Mr. Lennox Boynton nach seiner Rückkehr ins Camp?«, fragte Poirot.