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»Warum haben Sie ihn angesprochen?«, fragte Gerard.

Sarah zuckte mit den Schultern.

»Wieso nicht? Ich spreche oft Leute an, wenn ich auf Reisen bin. Menschen interessieren mich eben - was sie tun und denken und fühlen.«

»Sie legen sie gewissermaßen unter das Mikroskop.«

»So könnte man es nennen«, räumte die junge Frau ein.

»Und welchen Eindruck hatten Sie in diesem Fall?«

»Tja«, sagte sie zögernd, »es war schon etwas seltsam. Zunächst einmal wurde der junge Mann rot bis über beide Ohren.«

»Ist das so verwunderlich?«, fragte Gerard trocken.

Sarah lachte.

»Sie meinen, er könnte mich für ein leichtes Mädchen gehalten haben, das ihm schamlos Avancen machte? O nein, das glaube ich nicht. Männer erkennen dergleichen doch auf den ersten Blick, habe ich Recht?«

Sie sah ihn geradeheraus fragend an. Dr. Gerard nickte bejahend.

»Ich hatte das Gefühl«, sagte Sarah langsam und mit leicht gerunzelter Stirn, »dass er - wie soll ich es ausdrücken -aufgeregt und entsetzt zugleich war. Unverhältnismäßig aufgeregt - und gleichzeitig geradezu lächerlich ängstlich. Das ist doch merkwürdig, finden Sie nicht? Ich hatte Amerikaner bisher immer für außergewöhnlich selbstsicher gehalten. Ein zwanzigjähriger Amerikaner kennt sich auf der Welt bei weitem besser aus und hat viel mehr savoir-faire als, sagen wir, ein Engländer dieses Alters. Und der bewusste junge Mann ist bestimmt über zwanzig.«

»Dreiundzwanzig oder vierundzwanzig, würde ich sagen.«

»So alt?«

»Meiner Schätzung nach, ja.«

»Vielleicht haben Sie Recht. Aber er kommt mir irgendwie furchtbar jung vor.«

»Mental nicht dem Alter entsprechend entwickelt. Der kindliche Faktor dominiert noch.«

»Dann habe ich also Recht? Dass er irgendwie nicht ganz normal ist, meine ich?«

Dr. Gerard zuckte mit den Schultern und musste unwillkürlich über den ernsten Ton der Frage lächeln.

»Verehrte junge Dame, wer von uns ist schon ganz normal? Aber ich gebe zu, dass es sich hier vermutlich um eine Neurose handelt.«

»Die bestimmt irgendwie mit dieser grässlichen alten Frau zusammenhängt.«

»Sie scheinen sie nicht sehr zu mögen«, sagte Gerard und sah Sarah eigenartig an.

»Stimmt genau. Sie hat so einen - ja, einen bösen Blick.«

Gerard murmelte: »Den haben viele Mütter, wenn ihre Söhne sich zu faszinierenden jungen Damen hingezogen fühlen.«

Sarah zuckte ungehalten mit den Schultern. Franzosen waren doch alle gleich, dachte sie, immer nur Sex im Kopf!

Obwohl sie, als gewissenhafte Psychologin, natürlich zugeben musste, dass bei den meisten Phänomenen unterschwellig stets auch eine sexuelle Komponente im Spiel war. Sarahs Gedanken folgten vertrauten psychologischen Bahnen.

Doch dann wurde sie jäh aus ihren Betrachtungen gerissen. Raymond Boynton hatte sich erhoben und ging auf den Tisch mit den Zeitschriften zu. Er wählte eine aus. Als er auf dem Rückweg an Sarahs Sessel vorbeikam, blickte sie auf und sprach ihn an.

»Haben Sie heute schon fleißig Sehenswürdigkeiten besucht?«

Sie sprach aufs Geratewohl, da es ihr im Grunde nur darum ging, wie ihre Worte aufgenommen wurden.

Raymond zögerte, wurde rot, scheute wie ein nervöses Pferd und sah ängstlich zum Mittelpunkt seiner versammelten Familie hinüber. Er stammelte: »Oh - o ja

- äh, sicher, natürlich. Ich.«

Dann eilte er so abrupt, als hätte man ihm die Sporen gegeben, mit der Zeitschrift in der ausgestreckten Hand zu seiner Familie zurück.

Die groteske Buddha-Figur hielt ihre fette Hand nach der Zeitschrift auf, doch als sie sie entgegennahm, ruhten ihre Augen, wie Dr. Gerard bemerkte, auf dem Gesicht des jungen Mannes. Sie gab eine Art Grunzen von sich, das sich keinesfalls nach Dank anhörte. Ihr Kopf drehte sich kaum merklich zur Seite. Dr. Gerard sah, wie sie Sarah scharf musterte. Ihr Gesicht war absolut ausdruckslos, ohne jede Gefühlsregung. Es war unmöglich zu sagen, was im Kopf dieser Frau vorging.

Sarah schaute auf ihre Uhr und stieß einen leisen Schrei aus.

»Es ist ja viel später, als ich dachte!« Sie stand auf. »Vielen Dank für die Einladung zum Kaffee, Dr. Gerard. Ich muss noch Briefe schreiben.«

Er erhob sich und nahm ihre Hand.

»Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder«, sagte er.

»Ganz bestimmt! Vielleicht kommen Sie ja mit nach Petra?«

»Ich werde es auf alle Fälle versuchen.«

Sarah lächelte ihm zu und ging. Ihr Weg führte sie am Tisch der Boyntons vorbei.

Dr. Gerard, der ihr nachsah, bemerkte, dass Mrs. Boyntons Augen wieder zu ihrem Sohn wanderten und dass sich ihre Blicke trafen. Als Sarah vorbeiging, drehte Raymond leicht den Kopf - nicht zu ihr hin, sondern von ihr weg. Es war eine langsame, widerwillige Bewegung, die den Eindruck vermittelte, die alte Mrs. Boynton hätte an einem unsichtbaren Draht gezogen.

Sarah King bemerkte den ausweichenden Blick, und sie war noch jung und unbefangen genug, um sich darüber zu ärgern. Sie hatten sich im schwankenden Gang des Schlafwagens so nett unterhalten. Sie hatten ihre Eindrücke von Ägypten ausgetauscht, hatten über die komische Sprache der Eselstreiber und Straßenhändler gelacht. Sarah hatte geschildert, wie ein Kamelführer, der sie erwartungsvoll und unverschämt gefragt hatte: »Du englisch Lady oder amerikanisch?«, zur Antwort bekommen hatte: »Nein, Chinesin.« Und welches Vergnügen es ihr bereitet hatte, als der Mann sie daraufhin völlig entgeistert anstarrte. Der junge Boynton hatte wie ein netter, eifriger Schuljunge auf sie gewirkt -tatsächlich hatte sein Eifer etwas Rührendes gehabt. Und nun war er, ohne jeden ersichtlichen Grund, auf einmal linkisch, flegelhaft - ja geradezu ungezogen.

In Zukunft kann er mir gestohlen bleiben, sagte sich Sarah empört.

Denn obwohl Sarah nicht über Gebühr eingebildet war, hatte sie doch eine ziemlich hohe Meinung von sich. Sie wusste genau, dass sie auf das andere Geschlecht ausgesprochen anziehend wirkte, und sie gehörte nicht zu denen, die sich eine Brüskierung stillschweigend gefallen lassen!

Vielleicht war sie doch eine Spur zu freundlich zu dem jungen Mann gewesen, aber aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen hatte er ihr Leid getan.

Aber nun stand eindeutig fest, dass er nichts weiter als ein ungezogener, hochnäsiger, flegelhafter junger Amerikaner war!

Statt die erwähnten Briefe zu schreiben, nahm Sarah King an ihrem Frisiertisch Platz, kämmte sich das Haar aus der Stirn, blickte in zwei aufgebrachte haselnussbraune Augen, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickten, und nahm ihr derzeitiges Leben unter die Lupe.

Sie hatte gerade eine schwierige seelische Krise durchgemacht. Einen Monat zuvor hatte sie ihre Verlobung mit einem vier Jahre älteren Arzt gelöst. Sie hatten sich sehr zueinander hingezogen gefühlt, waren sich aber vom Temperament her zu ähnlich gewesen. Meinungsverschiedenheiten und Streitereien waren an der Tagesordnung gewesen. Sarah besaß ein zu herrisches Naturell, um den selbstverständlichen Autoritätsanspruch eines anderen einfach hinzunehmen. Wie so viele temperamentvolle Frauen glaubte Sarah, dass sie Stärke bewunderte. Sie hatte sich immer eingeredet, dass sie beherrscht werden wollte. Als sie dann einen Mann kennen lernte, der sie beherrschen konnte, stellte sie fest, dass ihr das ganz und gar nicht behagte! Die Verlobung aufzulösen war sehr schmerzlich für sie gewesen, aber sie war scharfsichtig genug, um einzusehen, dass Gefühle allein keine ausreichende Basis waren, um darauf ihr Lebensglück aufzubauen. Um schneller darüber hinwegzukommen, hatte sie sich ganz bewusst eine interessante Auslandsreise gegönnt, bevor sie allen Ernstes ins Berufsleben eintrat.

Sarahs Gedanken kehrten aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück.