»Keine Ahnung. Schon möglich.«
»Vielleicht waren Sie zu sehr in Ihre Gedanken vertieft, um sie zu bemerken?«
»Ja, das könnte sein.«
»Sprachen Sie mit Ihrer Mutter, als Sie wieder im Camp waren?«
»Ja — ja, allerdings.«
»Sie klagte nicht darüber, dass sie sich unwohl fühlte?«
»Nein — nein, es schien alles in Ordnung zu sein.«
»Darf ich fragen, worüber Sie beide sprachen?«
Lennox zögerte einen Moment. »Sie meinte, ich sei ziemlich bald zurückgekommen. Ich bejahte es.« Er hielt abermals inne, versuchte sich zu besinnen. »Ich sagte, dass es sehr heiß sei. Sie — sie fragte mich nach der Uhrzeit, sagte, ihre Armbanduhr sei stehen geblieben. Ich nahm ihr die Uhr ab, zog sie auf, stellte sie und band sie ihr wieder um.«
Poirot warf freundlich ein: »Und wie spät war es da?«
»Wie?«, sagte Lennox.
»Wie spät war es, als Sie die Armbanduhr stellten?«
»Ach so. Es war fünfundzwanzig Minuten vor fünf.«
»Dann wissen Sie doch ganz genau, wann Sie ins Camp zurückkehrten«, sagte Poirot freundlich.
Lennox wurde rot. »Natürlich! Wie dumm von mir! Sie müssen entschuldigen, Monsieur Poirot, aber in meinem Kopf geht alles drunter und drüber. Die ganze Aufregung — «
»Oh, das ist nur verständlich«, fiel ihm Poirot ins Wort, »absolut verständlich! Es ist alles in höchstem Maße beunruhigend! Und was geschah dann?«
»Ich fragte meine Mutter, ob ich ihr etwas bringen sollte. Etwas zu trinken — Tee, Kaffee oder so. Sie sagte, nein. Daraufhin ging ich ins Gemeinschaftszelt. Von den Dienern war nichts zu sehen, aber ich fand eine Flasche Sodawasser und trank sie aus. Ich war sehr durstig. Ich habe mich hingesetzt und einige alte Ausgaben der Saturday Evening Post gelesen. Dabei muss ich wohl eingenickt sein.«
»Ihre Frau kam ebenfalls ins Gemeinschaftszelt? «
»Ja, sie kam kurz nach mir.«
»Und Sie haben Ihre Mutter nicht lebend wieder gesehen?«
»Nein.«
»Sie schien nicht erregt oder aufgebracht zu sein, als Sie mit ihr sprachen?«
»Nein, sie war so wie immer.«
»Sie erwähnte nicht, dass sie mit einem der Diener Ärger oder Unannehmlichkeiten gehabt hatte?«
Lennox starrte ihn verblüfft an. »Nein, mit keinem Wort.«
»Und das ist alles, was Sie mir sagen können?«
»Leider, ja.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Boynton.«
Poirot neigte den Kopf zum Zeichen, dass das Gespräch beendet war. Lennox schien nur ungern zu gehen. An der Tür blieb er zögernd stehen. »Äh — war das alles?«
»Gewiss. Vielleicht wären Sie so freundlich, Ihre Frau zu bitten, zu mir zu kommen?«
Lennox ging langsam hinaus. Poirot notierte auf seinem Block: L.B. 16.35 Uhr.
Siebtes Kapitel
Poirot betrachtete interessiert die hoch gewachsene, würdevolle junge Frau, die das Zimmer betrat. Er stand auf und verbeugte sich höflich vor ihr. »Mrs. Lennox Boynton? Hercule Poirot, zu Ihren Diensten.«
Nadine Boynton nahm Platz. Ihre nachdenklichen Augen ruhten auf Poirots Gesicht.
»Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, Madame, dass ich Sie in Ihrer Trauer belästigen muss.«
Ihre Augen sahen ihn unverwandt an. Sie antwortete nicht sofort. Ihr Blick blieb ruhig und ernst. Schließlich seufzte sie und sagte: »Ich halte es für das Beste, Ihnen gegenüber völlig offen zu sein, Monsieur Poirot.«
»Ganz Ihrer Meinung, Madame.«
»Sie entschuldigen sich, weil Sie mich in meiner Trauer zu belästigen glauben. Doch da ist keine Trauer, Monsieur Poirot, und es ist müßig, so zu tun, als würde ich trauern. Ich mochte meine Schwiegermutter nicht, und ich kann nicht guten Gewissens behaupten, dass ich ihren Tod bedauere.«
»Ich danke Ihnen, Madame, dass Sie so offen sprechen.«
»Trauer«, fuhr Nadine fort, »kann ich nicht vortäuschen, aber ich muss gestehen, dass ich etwas anderes empfinde — nämlich Gewissensbisse.«
»Gewissensbisse?« Poirot zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Ja. Denn ich bin diejenige, die ihren Tod verschuldet hat. Und deswegen mache ich mir bittere Vorwürfe.«
»Was sagen Sie da, Madame?«
»Ich sagte, dass ich am Tod meiner Schwiegermutter schuld bin. Ich handelte, wie ich glaubte, in bester Absicht — aber die Folgen waren tragisch. Im Grunde genommen habe ich sie getötet.«
Poirot lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Hätten Sie wohl die Güte, Madame, Ihre Worte näher zu erläutern?«
Nadine neigte den Kopf. »Ja. Genau das wollte ich ohnehin. Meine erste Reaktion war natürlich, meine Privatangelegenheiten für mich zu behalten, aber ich sehe ein, dass es an der Zeit ist, lieber alles zu sagen. Ich bin sicher, Monsieur Poirot, dass Sie schon oft vertrauliche Mitteilungen auch intimer Art erhalten haben.«
»In der Tat.«
»Dann will ich Ihnen geradeheraus erzählen, wie es war. Meine Ehe, Monsieur Poirot, ist nicht besonders glücklich. Die Schuld daran liegt nicht allein bei meinem Mann — seine Mutter hatte immer einen sehr ungünstigen Einfluss auf ihn —, aber seit einiger Zeit habe ich das Gefühl, dass ich dieses Leben nicht länger ertragen kann.«
Sie hielt inne und fuhr dann fort: »Am Nachmittag des Tages, an dem meine Schwiegermutter starb, kam ich zu einem Entschluss. Ich habe einen Freund — einen sehr guten Freund. Er hat mich mehr als nur einmal gebeten, sein Leben mit ihm zu teilen. An diesem Nachmittag nahm ich seinen Antrag an.« — »Sie beschlossen, Ihren Mann zu verlassen?«
»Ja.«
»Sprechen Sie weiter, Madame.«
Nadine fuhr mit leiser Stimme fort: »Nachdem mein Entschluss feststand, wollte ich — wollte ich ihn so schnell wie möglich in die Tat umsetzen. Ich ging allein zurück ins Camp. Meine Schwiegermutter saß noch immer vor ihrer Höhle, es war niemand in der Nähe, und so beschloss ich, ihr meine Entscheidung auf der Stelle mit zuteilen. Ich holte mir einen Stuhl, setzte mich zu ihr und teilte ihr ohne große Vorrede mit, was ich beschlossen hatte.«
»War sie überrascht?«
»Ja, ich fürchte, es war ein großer Schock für sie. Sie war überrascht und wütend zugleich — sehr wütend. Sie — sie geriet richtiggehend in Rage! Daraufhin weigerte ich mich, weiter mit ihr darüber zu reden. Ich stand auf und ging.« Ihre Stimme wurde noch leiser. »Ich — ich habe sie nicht lebend wieder gesehen.«
Poirot nickte bedächtig. »Ich verstehe.« Nach einer Weile sagte er: »Und Sie glauben, ihr Tod war die Folge dieses Schocks?«
»Dessen bin ich mir fast sicher. Sehen Sie, mit der Reise nach Petra hatte sie sich ohnehin schon zu viel zugemutet. Den Rest besorgten meine Mitteilung und ihr Wutanfall. Und ich fühle mich auch deshalb schuldig, weil ich eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Kranken habe und daher, mehr als jeder andere, hätte wissen müssen, dass so etwas passieren konnte.«
Poirot schwieg geraume Zeit und sagte dann: »Was genau taten Sie, nachdem Sie sie verlassen hatten?«
»Ich trug den Stuhl, den ich aus meiner Höhle geholt hatte, wieder hinein und ging hinunter ins Gemeinschaftszelt, wo mein Mann war.«
Poirot beobachtete sie scharf, als er fragte: »Erzählten sie auch ihm von Ihrem Entschluss? Oder hatten Sie ihn bereits informiert?«
Nadine zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde lang. »Ich sagte es ihm erst unten im Zelt.«
»Und wie nahm er es auf?« Sie antwortete leise: »Er war sehr bestürzt.«
»Bat er Sie, Ihren Entschluss zu überdenken?« Sie schüttelte den Kopf. »Er — er sagte nicht viel. Wissen Sie, wir wussten beide schon seit einiger Zeit, dass es vielleicht dazu kommen würde.«